Ich ließ sie gewähren, denn mir blieb nichts anderes übrig. Ich schaute dem Lehrer zu, wie er langsam redend und mit zittriger Hand an die Tafel schrieb. Seinen gekrakelten Schwachsinn konnten nur drei Leute im Raum lesen, und eine davon war nicht ich, sondern Susi, die selber eine Sauklaue hatte. Wenn ich sie schreiben sah, wollte ich ihr Blatt meist sofort zerreißen und das auch nur aus reiner Wut. Wie konnte ein Mädchen so schreiben?
Emma war auch keine von den Leuten, die seine Schrift lesen konnte, also mussten wir anderen das Gesagte aufnehmen und direkt mitschreiben. Ich konzentrierte mich auf meine Arbeit, und auch Emma schien ab und zu mal zwei, drei Sätze aufzuschreiben. Ansonsten saß sie desinteressiert herum und schien nicht großartig das Bedürfnisse zu besitzen, ihre Noten zu puschen oder einen guten Abschluss zu bekommen. Das regte mich noch mehr auf als die Tatsache, dass sie sowieso schon wie ein Haufen Scheiße aussah!
»Gut, schlagt Eure Bücher auf Seite zweihundertsechzehn auf.«
Wie Gläubige in der Kirche, die sich auf Befehl des Pfarrers hinknieten, schlugen wir unsere Geschichtsbücher auf. Ich nutzte mein Tablet. Doch auch in unserem Kurs gab es jene, die natürlich ihr Buch vergessen hatten oder Geschichte als bescheuert empfanden. In den hinteren Bänken riefen einige wie wild durcheinander.
»Ich hab mein Buch vergessen! Kann ich gehen?« Der Vogel, der so lauthals nach Freiheit kreischte, hieß Mark. Mark war ein richtiger Vollidiot und hatte absolut kein Interesse daran, am Unterricht teilzunehmen. Mark war Raucher. Mark war mit Leon befreundet und Mark hatte eine mit Akne überzogene Hackfresse. Seine Haare sahen aus, als hätte er sie von einem spanischen Straßenhund geklaut und seine Kleidung roch komplett nach Aschenbecher. Man wollte nicht neben ihm sitzen, es sei denn, man war selbst Raucher und hatte eine Nase, die durch das viele Rauchen nicht mehr dazu im Stande war, noch irgendetwas zu riechen. Ja, das war Mark. Einer, der den Unterricht immer störte und schon sehr viele Abmahnungen bekommen hatte. Aber das war auch der Mark, dessen Eltern Geld hatten, und dessen Vater kaufte ihm laut Gerüchteküche, immer wieder den Arsch frei.
»Dann schau bei deinem Nachbarn rein«, antwortete Herr Wachsler, der Geschichtslehrer leicht genervt.
»Der hat sein Buch auch vergessen!«, rief Mark oberschlau.
»Herrgott! Ihr seid unmöglich! Sucht euch jemanden, der eins hat, und nervt mich nicht! Ich werde euch trotzdem drannehmen! Selbst wenn ihr euer Buch vergessen habt oder sonst was! Sitzen bleiben!«
»Aber ich muss auf die Toilette!«, schrie ein Schüler, der nahe der Türe saß.
»Sitzen bleiben! Grade war Pause! Konntest du nicht dann gehen?«
»Aber da musste ich noch nicht!«, protestierte der Schüler.
»Dann musst du auch jetzt nicht!«, gab Herr Wachsler zurück und ging einfach zu den Hausaufgaben über.
»Herr Wachsler!«, rief Mark wieder. »Mein Hund hat auf meine Hausaufgaben gepinkelt. Ist noch ein Welpe. Aber ich hab versucht, sie trocken zu bekommen.«
»Mark Bender, willst du mich aufs Korn nehmen?«, knurrte Herr Wachsler.
»Nein, ehrlich nicht!«, Mark packte tatsächlich Blätter aus, vier Seiten, um genau zu sein.
Herr Wachsler sah sie sich kurz an, dann jaulte er stinksauer auf. »Was soll das denn sein!?«
»Na, meine Analyse«, gab Mark triumphierend zurück.
»Die riecht wie alte Socken vom Pfarrer!«
»Wie gesagt, mein Welpe hat…«
»Neu oder Sechs …«, unterbrach ihn Herr Wachsler und notierte, dass Mark seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. »Also Hausaufgaben nicht gemacht, tja, tststs, Mark. Das ist schon das dritte Mal. Der dritte Strich. Tja, Strafarbeit!«
»Boah ey!«, knurrte Mark den alten Herrn an. Alle blieben still und warteten schon darauf, dass Mark gleich einen seiner berühmten Ausraster bekommen würde.
»Selber Schuld«, gab Herr Wachsler kopfschüttelnd zurück und führte seine Runde fort.
Ich hatte meine Hausaufgaben natürlich.
»Gut, heute fangen wir mit einem neuen Thema an«, Oh Gott, ätzend, dachte ich, »worüber wir auch eine lange und ausführliche Klausur schreiben werden.« Zum Kotzen …
»Nationalsozialismus! Also fangen wir doch mit dem ersten 01. April 1930 bis 1933 an!«
Nicht schon wieder. Ich konnte es kaum noch hören. Krieg war schon immer ein Problem. Durchaus ein wichtiges Thema, aber musste man das echt in JEDEM Schuljahr durchkauen? Es erinnerte mich daran, dass Krieg immer bedeutete, dass am Ende irgendeiner der Geier und irgendeiner nur noch der Kadaver war. Tierische Instinkte werden geweckt, die Beute von Größeren erlegt. Sie fressen sich satt und überlassen so den Geiern das Schlachtfeld. Am Ende sollen die Knochen blank und kahl sein. Kriege sind gefährlich. Kriege bedeuten Tod, Leid, Zerstörung. Wir haben kaum noch ein Bewusstsein dafür. Die Gefahr ist stets da, wieder in den Bann des Terrors gezogen zu werden. So wie etliche Reiche vor uns. Ich hätte gerne mehr über ältere Geschichte gesprochen. Im Unterricht nahm man jedes Jahr nur die letzten dreihundert Jahre durch, bei wem es anders war, der hatte Glück. Ich hingegen hatte aus irgendeinem Grund jedes Jahr Napoleon, dann Nationalsozialismus, oder Französische Revolution und wieder Nationalsozialismus auf dem Unterrichtsplan. Die Ereignisse lagen nicht einmal beieinander. Entweder unser Lehrer wurde senil oder wir.
»Esmeh Walker! Hallo!« Herr Wachsler rief in meine geistige Abwesenheit meinen Namen und ich schreckte hoch, als mich Emma ‒ IGITT! ‒ am Arm anstieß.
»Wieder da? Sehen Sie das auch so wie Frau Fuchs?«
Oh, Shit, Emma heißt Fuchs, wieso muss der auch die Nachnamen benutzen? Scheiße … was hatte sie gesagt?
»Nein«, sprudelte ich hervor, weil ich nicht wusste, worum es ging, und zu langes Warten verursachen konnte, dass es tatsächlich so wirkte, als wüsste ich nicht, was vor sich ging – und das machte gar keinen guten Eindruck für eine Eins-a-Schülerin!
»So, da hören Sie es, Frau Fuchs! Frau Walker denkt, dass der Nationalsozialismus ein wichtiges Thema ist! Aber da sind Sie und ich wohl die Einzigen«, sagte er in meine Richtung, und erst jetzt bemerkte ich, dass einige Hände oben waren und es wohl eine Abstimmung gegeben hatte. Ich war leicht perplex, verdammt … VERDAMMT!
Wir drehten uns im Kreis. Drehten und drehten und drehten uns, bis nichts mehr von uns übrig blieb. Manche werden gefeiert, noch weit über ihren Tod hinaus, und viele in der modernen Welt streben nach einem solchen Ruhm. Doch die Moderne lässt ein solches Herausragen nicht zu. Nicht im Licht der Weisheit oder der Kunst. Höchstens als Schande der Gesellschaft oder als ruhmreicher Schauspieler oder Sänger (denn ganz ehrlich, alles andere geschieht eher selten). Das sind die Adligen der heutigen Zeit. Fernsehen, Kino und Musik kennt jeder, und jene, die keine Filme gucken oder keine Musik hören (Letzteres erscheint aber beinahe so unwahrscheinlich, wie dass Gott leibhaftig vor uns treten würde), gibt es zwar auch, doch diese zählen zu einer erstaunlichen Minderheit in unserer Gesellschaft … und selbst die haben irgendwann sicher schon mal einen Film gesehen. Also drehen sich die »normalen« Menschen permanent im Kreis. Jene, die glauben, man müsste sich ständig wie eine Rampensau überall präsentieren, weil man nur so ans Geld kommt, sind meistens auch jene, die eine gesellschaftliche Blamage darstellen. Es ist natürlich allgemein bekannt, dass Menschen, die in der Forschung etc. neue Erkenntnisse und Studien hervor- und in anderen Gebieten die Spezies Mensch weiterbringen, auch gut Geld verdienten und Anerkennung bekommen, doch vielen ist bewusst, dass so etwas nicht reicht, und sie hätten gerne genauso Milliarden von Dollar, Euro, was auch immer wie J. K. Rowling, Brad Pitt, Angelina Jolie, Zuckerberg, Trump, Kanye West und all die anderen Berühmtheiten.
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