Ariette ging mal "telefonieren", so daß Alan ein paar Minuten allein war.
"Psst, hallo, Mr. Phoenix! Hören Sie mich?" flüsterte der Magier von Varanasi.
"Schon wieder! Verdammt, sagen Sie mir endlich, wer Sie sind und woher Sie kommen!"
"Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen! Steht für Sie die Materie über dem Geist, oder der Gott-Geist über der Materie ?"
"Warum fragen Sie mich solche schwierigen Fragen, verdammt? Ich weiß es nicht!"
"Dann machen Sie sich mal darüber Gedanken!"
Und schon war das Phänomen wieder weg.
dachte Phoenix.
"Diese neuen Mobiltelephone mit der Freisprecheinrichtung sind doch echt eine tolle Erfindung! Der Mann am Nebentisch, dessen Frau gerade weg ist, hat anscheinend gerade damit telephoniert!" sagte die Frau am Nebentisch. Sie hatte eine Kette mit fetten, teuren Salzwasserperlen und ein blaues Kostüm an.
"Ja, Liebling." sagte ihr Mann im dunkelblauen Nadelstreifenanzug. "Dieses neue Technikzeugs nimmt total überhand. Ich weiß gar nicht mal, wie man das überhaupt richtig bedient."
"Dann mach halt einen Computerkurs!"
"Ich überleg's mir. Mal sehen."
Alan Phoenix wurde leicht rot. Anscheinend wurde er doch heimlich beobachtet. Wie peinlich!
Ariette kam wieder und setzte sich zu ihrem Mann.
"Du wirst es nicht glauben, Darling! Dieser Inder war wieder da, der vor kurzem am Fahrstuhl war und wieder wie im Nichts verschwunden war!"
"Was??"
"Ja! Er fragte mich, ob die Materie über dem Geist steht oder der Gott-Geist über der Materie!"
"Das ist ja eine hochinteressante philosophische Frage!"
"Mir ging es eigentlich weniger um die Frage, sondern um die Tatsache, daß dieser Typ schon wieder aufgekreuzt und verschwunden ist, und das alles nicht mit rechten Dingen zugeht!"
"Schreib's auf für deine Akten, vielleicht wird es ja irgendwann nochmal wichtig. Notier dir alles, Darling. Ort, Datum, Uhrzeit..."
"Gute Idee, Ariette. - Werd ich oben auf dem Zimmer machen."
"Aber diese Frage mit dem Gott-Geist , die geht mir nicht aus dem Kopf!"
"Er hat sich wenigstens interessante Leute ausgesucht, ich meine, wir sind ja schließlich nicht irgendwer von der Straße. Du weißt schon, wie ich es meine. Es soll jetzt nicht arrogant klingen."
"Ja, ich verstehe, wie du es meinst. - Wahrscheinlich ist es volle Absicht, daß gerade wir mit diesen Phänomenen konfrontiert werden. Aber es macht unsere Reise doch irgendwie aufregend, so ein bißchen abenteuerlich!"
"Ich dachte, du wolltest kein Abenteuer? Stichwort Varanasi!"
" Varanasi . Du immer mit deinem komischen Varanasi! Wer hat dir eigentlich diesen Floh ins Ohr gesetzt?"
"Weiß nicht. Dieses Wort hat so eine gewisse Faszination für mich."
"Wahrscheinlich warst du in einem früheren Leben ein Zauberer in Varanasi, oder ein Shivait. Ist jetzt im Scherz gemeint. Eigentlich glauben wir ja nicht an Reinkarnation... aber hundertprozentig ausschließen kann man es eigentlich auch nicht!"
"Eigentlich. Wenn das Wörtchen nicht wär..."
"...dann wäre ich schon Millionär!"
Beide lachten, erhoben sich von ihren Plätzen und begaben sich zum Fahrstuhl, dessen güldene Türen bereits sehnsüchtig darauf warteten, die "Prinzessin" und den "Zauberer" in sich aufzunehmen.
Über dem Großraum Delhi lag wieder die inzwischen leider immer häufiger anzutreffende Smog-Dunstglocke und versperrte den Blick auf die Sonne. Die Scooter knatterten um die Wette, die dröhnenden Busse drängten sich durch die Straßen, die fliegenden Händler, Bettler und Sadhus, oft eher mehr pseudo als echt, gaben sich ein Stelldichein. Alan und Ariette hatten natürlich bereits einiges an Sightseeing gemacht, das Red Fort und Lahore Gate in Old Delhi besichtigt, das Museum of Archaeology; in New Delhi standen das Rashtrapati Bhavan, also die Wohnstätte des indischen Präsidenten, das Purana Qila, das Humayun's Tomb, das Nationalmuseum und noch der abendliche Aufenthalt in zwei indischen sehr guten Restaurants auf dem Programm. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten waren jetzt fast alle abgehakt, und der Aufenthalt in Dilli neigte sich immer mehr dem Ende zu.
Agra nahte, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, Emilio Zappatoni so "rein zufällig" zu treffen. Zufall bedeutet, es "fällt einem zu", und gemäß der göttlichen Vorsehung passierten oft Dinge, die man vom rationalen Verstand her nicht einordnen und klassifizieren konnte.
Zum letzten Mal hielten sich Alan und Ariette in der Hotelhalle des ITC Maurya Sheraton Hotels auf, mit der großen Kuppel aus braunen gekrümmten Holzbalken, zwischen denen farbenfrohe Bilder gemalt waren. Supernobel war alles in diesem Hotel, aber man darf eben nicht vergessen, daß der Reichtum auf der einen Seite der Welt immer zu Lasten der armen Leute auf der anderen Seite der Welt ging. Es klingt etwas kryptisch, aber wenn man das Weltwirtschaftssystem analysiert, kommt man letztendlich zu diesem Sachverhalt. Und eine Mittelschicht ist nicht in jedem Land vorhanden; in Indien bildete sie sich gerade, obschon der Höhepunkt des dortigen Wirtschaftswachstums bereits überschritten war.
Ein letztes Mal durch die goldenen Fahrstuhltüren schreiten, im Foyer einen Champagner schlürfen, die Aircondition auf Maximum drehen, bis man sich durch die Temperaturdifferenz im Vergleich zu draußen erkältete - selbst in einem Fünf-Sterne-Hotel lauerten noch irgendwelche Risiken - oder daß der Magier von Varanasi wieder vollkommen ungebeten erschien und die beiden emotional und gedanklich aufwirbelte.
Ariette war schon etwas traurig, den Nobelschuppen verlassen zu müssen. Fünf Tage, fünf Sterne in Saus und Braus - denn ab jetzt würde es schrittweise immer mehr "abwärts" gehen auf ihrer Indienreise - nur gut, daß das Ariette nicht vorher wußte - und die beiden vor neue Herausforderungen stellen.
Agra war bereit. Das Taxi nach Agra war bereits geordert und hielt vor dem Hotel. Ein Page lud die Koffer ein, und ein zweiter öffnete parallel die hinteren Autotüren. Bye, bye Delhi, mit deinem Smog, den vielen Geschäften und skurrilen Leuten. Im Nachhinein würden Ariette und Alan noch öfters an diese Stadt denken, und an das Folgende noch viel mehr.
Sentimental gestimmt stiegen Alan und seine Frau in das schwarze Taxi. Als sie auf der 2er Autobahn Richtung Agra fuhren, hatten alle im Taxi einschließlich dem Fahrer ein so komisches Gefühl. Es fühlte sich wie die allerletzte Fahrt ihres Lebens an, es war eine ganz eigenartige Energie zwischen Leben und Tod. Wäre es wirklich ihre letzte Fahrt? Wie eine Sphärenmusik aus dem Himmel ertönte das Mantra "Om ram ramaya" im Taxi und um das Taxi herum. Keiner konnte sich erklären, wo die Musik herkam. Es war mystisch, traurig und an den Grenzen einer neuen Wirklichkeitserfahrung.
Ariette fragte sich plötzlich, warum sie sich auf diese Indienreise überhaupt eingelassen hatte. Im Fünf-Sterne-Hotel in New Delhi war sie zwar etwas aufgetaut und offen für neue philosophische und spirituelle Gedanken, doch das konservative Südstaaten-Weltbild holte sie im Taxi wieder ein. Ihre Eltern waren aus dem Süden, und auch Alan war eher konservativ geprägt, wenn auch nicht so stark wie seine Frau. Diese freikirchlich-konservativ geprägten Ansichten kollidierten jetzt mit dem typischen Indien. Denn sie verließen ja nun ihr total abgegrenztes Resort, was das Fünf-Sterne-Hotel in New Delhi ja mehr oder weniger gewesen war, und tauchten in das "normale" Indien ein. Ein "normales" Indien gibt es sowieso nicht, was die beiden aber nicht einordnen konnten. Normal war das, was sie aus Amerika kannten, und alles andere war eben ungewohnt und neu.
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