„Ich kann dich nicht oft genug bitten“, sagt er und ich sehe ihn lange an, um zu entscheiden, ob er es ehrlich meint. „Es ist meine Schuld, dass Andy dort war, in Lamia und auf dieser Treppe. Und mir galt auch der Schuss, ich verdanke ihm mein Leben. Ich hatte wohl gehofft, es ihm vergelten zu können, indem ich dir helfe.“
Ich schlucke und denke noch einmal an das Ritual. „Danke“, sage ich dann und senke den Blick.
„Irgendwann solltest du darüber nachdenken, ihn gehen zu lassen“, sagt er beiläufig.
Ein Anflug von Wut überkommt mich, aber ich kämpfe ihn schnell nieder. Ich würde Andy niemals mit Gewalt festhalten, wenn er sich Freiheit wünschen würde. Weine nicht, mein Engel. Es werden wieder schöne Tage kommen!
„Ihn gehen lassen“, murmele ich. „Dir fällt es leicht, das zu verlangen, deine Freundin ist unsterblich!“ Er hält es wohl für besser, sich dazu nicht zu äußern. „Bist du hierhergekommen, um mit mir zu reden?“, frage ich.
„Ich wusste nicht, dass du hier sein würdest, du warst es nie um diese Zeit.“
Das stimmt. „Also … kommst du öfter hierher?“ Er antwortet nicht. „Und wo ist Gillian?“ Ich will meine Furcht, sie könnte mir jeden Moment in den Rücken fallen, nicht zugeben, also ringe ich mir ab, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen.
„Du willst wissen, wie es ihr geht?“ Der Vampir lacht trocken. „Wahrscheinlich kniet sie im Blut eines Opfers, das sie sich von der Straße geholt hat, und schwelgt in höchsten Lustgefühlen!“
Schaudernd werfe ich einen Blick in Richtung der Häuser, ich kann nicht anders.
„Sie wird nicht kommen“, sagt er.
„Und was ist mit dir, hast du schon …?“
Ein Lächeln stiehlt sich in seine Züge, aber für meinen Geschmack ist es eine Spur zu teuflisch. „Ich könnte sonst nicht so neben dir sitzen.“
Warum nicht?, denke ich. Weil er gezwungen wäre, über mich herzufallen, mich zu töten und mein Blut zu trinken? Er weiß noch immer genau, wie er mir Angst machen kann.
Wie um meine Gedanken zu zerstreuen, erhebt er sich lässig und streicht sich den Staub von den Knien.
Jetzt erst sehe ich die Blume in seiner Hand. Eine weiße Lilie, wenn ich die Floristik-Vorträge meiner Mutter richtig behalten habe.
„Hier, das gefällt euch doch!“, sagt er gleichgültig. „Vergänglichkeit! Ich spüre sie schon in meiner Hand verwelken!“ Er wirft sie auf das Grab.
Ja, so kenne ich dich, Joice, denke ich spöttisch. Aber gleichzeitig berührt es mich, dass er Andy diese Ehre erweisen will. Genauso muss es sich für ihn angefühlt haben, als Andy unter unseren Händen starb, obwohl Joice ihm die Unsterblichkeit angeboten hatte. Eine völlige Hilflosigkeit, genau wie für mich.
„Ist das Trauer, die aus dir spricht?“ Ich beiße mir auf die Zunge, als ich die Worte schon gesagt habe. Das war mutig. Eine Anspielung auf seine Empfindungen könnte unvorsichtig genug sein, mich das Leben zu kosten. Es ist leicht, ihn herauszufordern, selbst wenn er bereit ist, mir jetzt seine Schuld einzugestehen.
Joice antwortet kühl: „Du solltest wissen, dass ich zu einer solchen Regung nicht fähig bin.“
Ich überlege noch, ob es klüger wäre, nichts zu erwidern, als ich mein Einhorn wiehern höre. Ich stehe auf, um zu gehen, zuerst ohne Hast, doch dann erschallt von der Straße her Hufgetrappel, und Angst ergreift mich. Mein Einhorn wiehert noch einmal und das fremde Pferd kommt näher.
„Er kommt wegen mir“, sagt Joice, wie um mich zu beruhigen. Gleichzeitig scheint seine Haltung angespannter – bereit zur Flucht.
Als ich einen Moment meine Erinnerungen an die Vampire durchsuche, glaube ich zu wissen, von wem er spricht, und richte plötzlich meine ganze Wut gegen unseren einstigen Verbündeten. Nicht Joice ist es, der die Schuld an Andys Tod auf sich geladen hat, es ist der finstere Reiter. Der, der die Armbrust führte.
„Das Phantom?“, frage ich, und meine Stimme ist eisig.
Er nickt. „Ich nenne ihn den Jäger.“
„Er jagt dich also noch immer.“
„Er wird es tun, bis er mich getötet hat oder selbst bei dem Versuch ums Leben kommt. Er gehört nicht zu den Menschen, die aufgeben.“
Den leisen Vorwurf in seiner Stimme bilde ich mir wohl ein, was könnte ihm schon an meinem Schicksal liegen? Ich weiß nicht, was ich entgegnen soll, wünsche ich ihm, dass er fliehen kann? Ich müsste wissen, dass der schwarze Reiter auf unserer Seite kämpft – zumindest tat er das so lange, bis sein Pfeil sein Ziel verfehlte. Und nun finde ich kein Gefühl mehr für ihn außer Hass.
„Vielleicht sollte ich auf ihn warten“, sage ich ironisch. „Ich hätte Lust, mit ihm auch eine Runde zu plaudern!“
Wieder lacht der Vampir trocken. „Du solltest verschwinden. Aber bevor du das tust, sage ich dir noch etwas: Deinen neuen Freund auf dem Hof, schau ihn dir genau an!“
Ich runzele die Stirn. „Wir haben kaum ein Wort gewechselt …“
Ohne noch etwas zu entgegnen, wendet er sich ab und schreitet in die Dunkelheit. Im Gehen sagt er: „Lass es mich wissen, wenn du es dir anders überlegst!“ Und amüsiert fügt er hinzu: „Oder wenn du sonst irgendwie Sehnsucht verspürst.“
„Todessehnsucht?“, rufe ich ihm nach. Durch den größeren Abstand bin ich mutiger geworden. Irgendetwas sagt mir, dass ich vor ihm nichts zu befürchten habe.
„Vielleicht Sehnsucht nach meinen Geschichten?“, antwortet er schon aus weiter Ferne.
Jetzt muss ich tatsächlich lächeln. „Und was tue ich dann?“
Seine Stimme wird leiser, fast glaube ich, dass ich sie nur in meinem Kopf höre. „Auch ich werde dich finden. Wo immer du bist.“
Ich blicke noch einmal zurück auf das Grab. Als ich die Kerze ausblase, verabschiede ich mich im Stillen. Ich werde bald wieder kommen, aber nicht mehr im Dunkeln.
Zwischen den gespenstischen Wacholderbüschen hindurch eile ich zurück zu meinem Einhorn. Der Reiter und sein Nachtpferd müssen nun schon sehr nahe sein, der Hufschlag auf dem weichen Boden ist gedämpft. Als ich Luna erreiche, wiehert sie nicht mehr.
„Lass uns abhauen!“, flüstere ich, und sie schnaubt zustimmend. Ich wende sie, um aufzusteigen und erkenne am Ende der Straße die dunkle Gestalt. Mit wehendem Umhang galoppiert der Reiter den Weg hinauf, direkt auf uns zu. Als ich sehe, wie schnell sie sind, komme ich mir wie gelähmt vor. Luna stößt mich mit der Nase an, um mich aus meiner Starre zu reißen. Aber ich schaffe es nicht rechtzeitig. Einen Fuß im Bügel, spüre ich einen eisigen Hauch, und das schwarze Streitross sprengt an uns vorbei, ohne langsamer zu werden. Vor Schreck weiche ich aus und falle gegen Luna. Aus dem Augenwinkel sehe ich die Armbrust, unter dem Cape blitzt ein versilbertes Schwert. Im nächsten Moment sind sie vorüber und jagen weiter den Hügel hinauf, an der Friedhofsmauer entlang. Dann schluckt sie die Schwärze.
Ich stehe mit wackeligen Knien an mein Einhorn gelehnt, die Hände in die Zügel gekrallt, und wage nicht zu atmen. Mit weiten Augen starre ich in die Finsternis und versuche dort, wo sie verschwunden sind, eine Bewegung oder ein Geräusch auszumachen. Der Reiter muss genau gewusst haben, wohin der Vampir flüchten würde.
Nach einer Weile schnaubt meine Stute und entwarnt mich, auch wenn sie noch immer nervös mit dem Schweif schlägt. Ich beginne, in einer mechanischen Bewegung ihren Hals zu streicheln, um mich selbst zu beruhigen. Jenseits der Mauer schlägt die Turmuhr und das erlöst mich endlich von dem Bann, der mich zwingt, in die Dunkelheit zu stieren.
Wie hypnotisiert steige ich in den Sattel und nehme die Zügel auf. Luna setzt sich sofort in Trab und läuft automatisch in Richtung der Shore Ranch. Als ich ihren klaren Hufschlag höre und die Bewegung unter mir fühle, beruhigt sich mein Puls allmählich. Bereitwillig schwöre ich mir, bei Dunkelheit überhaupt nicht mehr rauszugehen.
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