Toshiko gab Jannek ein Zeichen, dass sie nach Hause wollte, da sie am nächsten Morgen sehr früh arbeiten musste und sie machten sich auf den Rückweg. Toshiko setzte sich auf die Stange des Rades und sie fuhren am Kanal zurück bis nach Hackney. Bei den Hippies unter der Autobahnbrücke loderte ein neues großes Lagerfeuer. Glut wehte herum und sie sangen gegen den Lärm der Straße darüber an. Jannek fuhr schneller. Ein Stück weiter beobachteten sie, wie auf der anderen Seite des Kanals ein Mann von einer Gruppe Jugendlicher überfallen und zusammengeschlagen wurde. Sie schrien rüber, um das Schlimmste zu verhindern, aber sie bezweifelten, dass es geholfen hatte.
„Nur wir?“ fragte Jannek überrascht. Junge Leute kippten an der Theke des Pubs Einstimmungsschnäpse in Vorbereitung auf eine wilde Nacht in den Clubs. Gary bestellte Jannek ein Bitter-Bier und sagte:
„Ja, nur wir. Außer du erwartest noch jemand.“
„Ich? Nein. Wollte denn keiner deiner Freunde mit?“ fragte Jannek.
„Nein, als sie gehört haben, dass ich tatsächlich schlicht ein Bier trinken gehen will und sonst nichts, haben sie alle der Reihe nach abgesagt.“
„Hm, aber es ist schließlich dein Junggesellenabschied“, sagte Jannek nachdenklich. Sie stützten ihre Ellenbogen auf die Theke und betrachteten das Treiben. Jannek hatte sich für einen kurzen Moment geschmeichelt gefühlt, weil ihm als einziger die Ehre zu Teil wurde, diesen Abend mit Gary zu verbringen. Aber dann kam ihm in den Sinn, dass Gary vielleicht insgeheim darauf gehofft hatte, er würde für ihn eine ‘Stag night’ Party ausrichten, genauso wie dies die Freundinnen Dayas in wochenlanger Vorplanung für ihre ‚Hen night‘ getan hatten.
‚Konnte das wirklich sein?‘ grübelte er nun und musterte Gary vorsichtig. ‚Hätte er es tatsächlich gemocht, wenn sich überraschend alle seine Freunde versammelt hätten und sie nach Brighton oder irgendwohin aufgebrochen wären und hemmungslos die Sau rausgelassen hätten? Vielleicht. Vielleicht hätte er es sogar gut gefunden, am darauffolgenden Tag irgendwo nackt oder in einer peinlichen Situation oder Position wieder zur Besinnung zu kommen.‘ Dann verwarf Jannek aber seine Zweifel wieder und tröstete sich damit, dass für ihn ein solches Treiben doch sehr gegen den Strich ging und schlicht nicht zur Debatte stand. Und Gary musste dies wissen. Es konnte gar nicht anders sein. Das Konzept einer Heirat war schließlich sowieso Unsinn: ein paar Worte und ein Stück Papier - was bedeutete das schon, warum sollte jemand darauf Zeit und Geld verschwenden?
Gary schwieg schlecht gelaunt.
„Weißt du, ich habe einen Freund“, sagte Jannek, „der hat heimlich geheiratet und seine Frau und er haben es niemandem erzählt. Die Hochzeit war schnell getan und die billigste überhaupt: nur die Gebühr auf dem Amt und ein paar Bier hinterher mit den Trauzeugen - sonst nichts. Also unter 50 Pfund alles zusammen. Die beiden sind jedoch nach einigen Jahren deshalb sehr unglücklich gewesen, denn die Eltern hatten sie dauernd gedrängelt endlich zu heiraten, besonders als sie auch noch Kinder bekommen hatten. Aber sie hatten nicht mehr den Mut gehabt, es ihnen zu sagen. Stell dir vor, am Schluss haben sie sogar überlegt, sich wieder scheiden zu lassen.“
Gary lachte trocken. Unerwartet leerte er sein Pint in einem großen Zug und hielt mürrisch einer hübschen Frau seinen Tabak hin, die ihn nach einer Zigarette gefragt hatte. Sie war mit einer Freundin da und es drängte sich regelrecht auf, sich ihnen anzuschließen. Sie konnte keine Zigaretten drehen und so steckte Gary den Tabak einfach wieder ein und verließ die Kneipe ohne auf Jannek zu warten. Jannek hastete sein Bier herunter, griff sein Jackett und lief hinter ihm her.
„Weißt du was“, sagte er zu ihm verärgert, es regnete dicke Tropfen, „entweder, wir gehen hier irgendwie akzeptabel einen Trinken, so wie normalerweise oder wir lassen es halt.“
Gary versteinerte. Zögerlich nickte er und als sie an einem Pub vorbeikamen, der Striptease anbot, wollte er dort hineingehen. Jannek stimmte widerwillig zu.
Gary bezahlte die acht Pfund Eintritt und ein Türsteher drückte ihnen einen verschmierenden Stempel auf den Handrücken. Sie drängelten sich durch drei Reihen an der Bar stehender Männer und bestellten Bier. Bald verrenkte sich eine gedrungene Frau zu Discomusik auf dem Teppich. Sie zog ihre Unterhose, die nicht mehr als ein ekliges, gelbliches Stoffdreieck an Fäden war, aus ihrem Hinterteil und nach unten. Währenddessen kam eine andere mit durchsichtigen Dessous bekleidete Frau zu Jannek und Gary und forderte sie dazu auf, für den Striptease fünf Pfund zu entrichten. Kaum hatten sie jeder einen Fünfpfund-Schein in den Pappbecher geworfen, da war die Show auch schon vorbei.
Nach einer viertel Stunde sammelte die leicht bekleidete Frau für den nächsten Striptease Geld ein. Alle warfen schnell irgendwelche Münzen in den Becher, auf keinen Fall fünf Pfund, sondern weniger und die Frau zeterte bei jedem, dass sie genau gesehen habe, dass es niemals fünf Pfund gewesen seien. Aber niemand scherte sich darum und so ging sie schlecht gelaunt zum nächsten. Jannek und Gary taten es nun den abgebrühten Stammkunden gleich und warfen nur jeweils ein Fünfzig-Pence-Stück in das Gefäß. Gary versuchte sogar wieder etwas Geld herausnehmen, bekam aber etwas auf die Finger.
Als die Show losging, drängelten die vielen Männer sie aggressiv zur Seite und versperrten ihnen die Sicht. Die kahlen Birnen des Kronleuchters gaben ein unvorteilhaftes Licht ab. Was Jannek erkannte, war, ein sich ungelenk verrenkender, mehliger und schwabbeliger Körper. Außerdem legten einige blaue Flecken nahe, dass die Frau vielleicht geschlagen worden war. Nach einer Pause räkelte sich eine andere Stripperin schwachsinnig auf dem Billardtisch herum.
„Nicht auszuhalten“, zischte Gary, „raus hier!“
Sie drängelten sich auf die Straße, die nun voller vergnügungssüchtiger Menschen war, die auf der Suche nach dem ultimativen Ausgeh-Erlebnis, sich in jede kleine Kneipe pressten, Kneipen, die früher einmal Schuhläden oder sonst etwas waren und deren Wände und Möbel nun mit Leopardenmustern oder mit grellen Blumentapeten versehen waren und die mit Techno-Musik lockten. Es war nun deutlich kühler geworden, auch regnete es etwas mehr, aber Gary, der nur im T-Shirt gekommen war, schien das nichts auszumachen. Sie liefen an hupenden Autos vorbei, die an einer überfüllten Kreuzung stecken geblieben waren, durchkreuzten Lichtkegel, die die fallenden Wasserfäden beleuchteten, bis zu einer Tankstelle, an dessen Geldautomat Gary Geld entnehmen wollte. Während sie warteten, bis er an der Reihe war, überlegten sie, was sie nun machen könnten. Gar nicht weit, gab es einen anderen, großen Striptease-Club, der von draußen sehr professionell wirkte, denn neonblaues Licht beleuchtete das schwarz gestrichene Gebäude.
„Die haben amerikanischen Stil“, sagte Gary wissend und Jannek gab sich beeindruckt, da er keine Ahnung hatte, was das zu bedeuten hatte. „Also Pole-Dance und Tabledance“, setzte Gary hinzu.
„Was du nicht sagst!“ bemerkte Jannek ironisch, obwohl er gehofft hatte, dass das Begaffen von Fleisch nun vorbei war. „Brauchen wir das wirklich noch? Wozu dient es? Um sich aufzustacheln? Und dann? Dann ist man in erster Linie eine gehörige Summe los.“
Gary lachte auf und gab ihm Recht.
„Nicht weit von hier ist eine russische Bar, das gefällt uns bestimmt besser“, schlug Jannek vor, „die spielen schlechte Diskomusik zu der aufgetakelte russische Mädchen toben. Was hältst du davon?“
Gary erklärte sich einverstanden und sie marschierten wieder in die entgegengesetzte Richtung, gegen den Strom der Leute, die betrunken schwankten. Etliche übergaben sich in Ecken. Es gab Gerangel und Streitereien. Ab und zu musste Gary jemand zur Seite schubsen, weil er ihnen dumm kommen wollte.
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