Thorgrim leerte das Horn mit zitternder Hand und Bier rann ihm durch den Bart. Langsam füllte er das Trinkgefäß erneut, aber alle sahen, dass er Mühe hatte sich zu erheben. Als er vor Rolant stand, starrte er eine Zeitlang vor sich hin, bevor er sprach:
»Die Sachsen … sind tapfere Männer … so heißt es. Doch wären die starken Friesen dort gewesen, so … hätten die Franken … weder die Eresburg geschliffen noch … das Heiligtum zerstört.«
Rolant trank auch dieses Horn aus, aber sein Gesicht war ernst, als er sich langsam erhob: »Mir scheint, die Friesen denken schlecht von unserer Kampfeskraft. Doch lass mich dir zeigen, dass selbst ich, der Kleinste unter den Sachsen, deinen Speer weiter werfen kann als jeder deiner Gesippten.«
Thorgrim schüttelte sich wie ein Bär. »Keine Gesippten brauche ich, um meine Waffe zu schleudern.« Er wankte und stützte sich mit seinen gewaltigen Fäusten auf dem Tisch auf, mit funkelnden Augen beugte er sich zu Rolant hinunter. »Kleiner Mann, ich werfe den Speer weiter als jeder Krieger.«
Rolant nickte und sah auf das leere Horn, das Thorgrim achtlos fallen gelassen hatte. »Ich sehe wohl, dass ich dir zeigen muss, wie ein starker Arm deine Waffe zu schleudern vermag. Aber dich schwächt das Bier. Ich werde keinen Ruhm ernten, gegen einen Trunkenbold gewonnen zu haben.«
Thorgrim lief dunkelrot an, packte den Tisch mit beiden Händen und warf ihn um. Becher, Trinkhörner, Tabletts und Speisen fielen zu Boden. Rolant zuckte nicht mit der Wimper. Amüsiert wischte er sich einige Bierspritzer aus dem Gesicht und zeigte zum Ausgang. Als Thorgrim den riesigen Speer ergriff, kamen Arbogast Zweifel, aber Rolant sah dem Friesen ungerührt zu, wie er schwankend zur Tür stapfte, und folgte ihm. Viele Männer und Frauen erhoben sich und gingen den beiden Männern nach.
Arbogast trat hinter den anderen nach draußen und sah, wie der Friese von der frischen Luft wie vor den Kopf geschlagen war und mit dem Speer in der Hand dastand, als wüsste er nichts damit anzufangen.
»Auf den Feldern tanzen die Frauen um die Feuer«, sagte Rolant, »darum schlage ich vor, werfen wir in diese Richtung über das Langhaus.«
Rolant wartete, bis der große Mann reagierte und langsam den Kopf hoch. Verwirrt schüttelte Thorgrim sich und versuchte knurrend mit der Hand irgendwas vor seinem Gesicht zu verscheuchen. Als er den Speer hob, fiel er nach vorne.
Rolant konnte gerade noch zur Seite springen, um nicht unter dem Hünen begraben zu werden. Thorgrim blieb auf dem Gesicht liegen und rührte sich nicht mehr. Lachen löste die Spannung. Zur Belustigung der Gäste trugen die Friesen ihren Gesippten in die Halle zurück. Ein Friese bückte sich nach dem langen Speer und zog ihn hinter sich her. Arbogast gesellte sich zu Rolant und beglückwünschte ihn.
»Deine Worte trafen gut!«
Rolant strich sich über seinen braunen Schnurrbart und sah den drei Männern zu, die den gewaltigen Körper des Friesen kaum zu tragen vermochten. »Morgen werden wir Gelegenheit finden, den Wettkampf fortzusetzen, dessen bin ich mir sicher!«
Dunkelheit hatte sich über das Land gesenkt. Auf den Feldern brannten große Lagerfeuer und die Luft war erfüllt von dem Geruch nach verbranntem Holz, von Musik und Gelächter. Gemeinsam gingen sie zum Tor des Palisadenzaunes, wo sie Isbert stehen sahen. Sein weißblondes Haar leuchtete in der Glut der Feuer, die Licht und Schatten auf sein Gesicht zeichneten.
»Rolant und Thorgrim lieferten sich einen Männervergleich«, sagte Arbogast, »Noch lange wird man sich davon erzählen.«
Isbert verzog unwillig das Gesicht. »Was soll mir der Friese mit seinen großen Worten?«
»Er forderte Rolant hinaus, aber fällte ihn die Trunkenheit, bevor es zum Wettstreit kommen konnte.«
Isbert wendete nicht den Blick von den Frauen, die blumenbekränzt die heiligen Feuer umtanzten. Arbogast folgte seinem Blick. Männer standen in Gruppen beisammen, lachten und riefen den Frauen etwas zu, was auf die Entfernung nicht zu verstehen war. Die Frauen wirbelten mit wehenden Kleidern um die Flammen. In der Nacht zuvor waren sie zur Quelle des Baches gegangen, der aus einem Fels entsprang, und hatten sich gereinigt, wobei kein Mann zugegen sein durfte. Bis Sonnenaufgang mussten sie die Reinigung beendet haben und so kamen sie alle im Morgengrauen zurück, lachend und übermütig, mit geröteten Wangen und strahlenden Augen. Sarhild umrundete ein weiteres Mal das große Feuer, ihre bloßen Füße schienen kaum den Boden zu berühren. Sie trug ein blutrotes langes Gewand, das um ihre Knöchel wogte, und warf lachend den Kopf zurück, ihr Haar färbte der Flammenschein rötlich ein, während sie um die eigene Achse wirbelte. Ihre Füße stampften im Rhythmus der Gesänge. In den letzten Sommern war sie zu einer schönen jungen Frau herangewachsen.
Arbogast griff sich ein Trinkhorn von einem Vorbeikommenden und sah den Frauen zu, die lachend und rufend um die Feuer tanzten, bis sein Blick bei einer einsamen Gestalt am Waldrand hängenblieb.
»Schau«, sagte er und wies mit dem Kopf auf den jungen Mann, »Farold!«
Isbert sah kurz zu ihrem Bruder hinüber, der im Halbdunkeln kaum zu erkennen war. »Mir scheint, er beobachtet Sarhild!«
»Er ist zwar nicht der Sohn unseres Vaters, aber er hat den Geschmack der Sippe!«, meinte Arbogast und trank einen Schluck des bitteren Bieres.
Farold schien ihre Blicke bemerkt zu haben und nickte ihnen auf die Entfernung zu. Arbogast hob seinen Arm und grüßte ihn mit dem Trinkhorn. Die schmale Gestalt Farolds löste sich aus dem Schutz der Bäume und kam über den Platz auf sie zu, in seiner dunklen Kleidung verschmolz er mit der Nacht. Als er vor seinen Brüdern stehenblieb, reichte er ihnen gerade bis zur Schulter, sein halblanges schwarzes Haar fiel ihm in Strähnen bis in die Stirn.
»Zieht mein Bruder die Einsamkeit des Waldes der Gegenwart der Frauen vor«, sagte Arbogast und reichte ihm das Horn.
Farold nahm es entgegen und trank einen kleinen Schluck. Seine dunklen Augen wanderten kurz zu Isbert, der seine Aufmerksamkeit wieder ganz den Tanzenden zugewendet hatte. »Im Wald sind fast genauso viele Frauen wie bei den Feuern«, antwortete er. »Sie liegen bei den Männern und heißen den Frühling willkommen.«
»Der Winter war lang und hart!« , entgegnete Arbogast.
»Ich erinnere mich an mein erstes Sommersonnenfest. Euer Leben erschien mir fremd, doch Theodard nahm mich ohne zu zögern in die Sippe auf.« Farold zog die schmalen Schultern hoch und ließ sie wieder sinken. »Es ist jetzt fast zehn Sommer her, seit unser Vater erschlagen wurde. Ich musste den ganzen Tag daran denken!«
Arbogast ergriff das Horn und leerte es mit einem Zug. Sein Blick glitt zu Fehild, die sie damals vom Schlachtfeld bei der Irminsul gerettet hatten. Mittlerweile bewirtschaftete sie mit ihrem Mann Ulf ein Gehöft in der Nähe. Sie war am Leben geblieben, während Theodard starb. Die Götter waren nicht zimperlich darin, wessen Leben sie nahmen und welches sie verschonten. Selbst sie mussten sich an die Schicksalsfäden halten, die die Nornen für sie alle webten.
»Vater hatte einen guten Tod und ohne ihn hätte vielleicht keiner von uns überlebt!«, sagte er. Er bemerkte ein spöttisches Funkeln in den Augen seines Bruders, obwohl seine Miene wie üblich wenig verriet.
»Wäre ich nicht auf den Platz gelaufen, wäre Theodard noch am Leben und könnte jetzt mit uns zusammen feiern.«
»Er feiert nun jeden Abend in Walhall!«, sagte Isbert, der Farold finster musterte. »Noch immer verstehst du nicht, was einen Mann ausmacht. Hast du so wenig von unserem Vater gelernt?«
Farold zuckte zusammen und wandte den Blick ab, um zu den Tanzenden an den Feuern herüberzusehen. »Euer Vater hat mich zu einem Menschen gemacht, mich in den Kreis der Lebenden geholt. Wie könnte ich das vergessen ...«
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