„Wer von uns beiden hat sich verändert?“ fragte sie sich aus Angst vor langen, schlaflosen Stunden, die eine Antwort suchen.
Am nächsten Morgen beim Frühstück sagte Hans Geyer knapp:
„Maria, du wirst es zumindest jetzt noch nicht verstehen können, vielleicht in ein paar Jahren, aber ich habe mir gestern eine Uniform bestellt, bin in die Partei eingetreten.
Auf meinen Kragenspiegel bekomme ich dank meiner Verdienste im ersten Weltkrieg, meiner Teilnahme an Reserveübungen und meiner schnellen Entscheidung Parteimitglied zu werden, das prägnante Dienststellenabzeichen für Oberhelfer. Ansonsten hätte ich mich mit einem blanken, braunen Spiegel zufriedengeben müssen.“
Maria hob den Kopf und sagte nur: „Ich gehe raus und spann die Pferde an. Ich habe mich gestern im Haus überfordert, ich muss heute in frischer Luft arbeiten.“
Im Hinausgehen sagte sie noch zu ihrem Mann: „Ich hab Angst vor diesen Horten, diesen lauten Menschenmassen in Uniform, diesem Gleichschritt in Stiefeln und diesen nach oben gestreckten Fäusten oder Händen. Das gilt für beide Richtungen, Rot oder Braun. Und ich hab noch mehr Angst vor denen, die all diese Menschen aufwiegeln.“
Das Mittagessen nahmen sie schweigend ein und auch das Abendessen. Danach wollte Hans Geyer erklären: „Maria, wir brauchen eine neue Weltordnung. Wir brauchen Stabilität, wir brauchen einen starken und rechtschaffenen Führer. Recht muss wieder Recht sein. Ich will wieder stolz sein, nicht Kriegsverlierer, sondern ein guter Deutscher sein!“
„Und da musst du gleich wieder vorne mit dabei sein? Recht und Stolz sind Worte die auf einen Führer verzichten können. Du musst nicht als einer der ersten in Hattelfingen die Hand zum Gruß nach oben reißen.“
„Maria, eins sag ich dir, bevor ich mir die Finger meiner wütenden Faust in der Hosentasche breche, strecke ich sie lieber zum Heile unseres Führers nach oben!“
Am Samstag nach der mit heftigen Diskussionen angereicherten Woche ging Hans Geyer zum ungeliebten Frisör. Vorsichtig schaute er durch die einzige Tür mit einer Glasscheibe in Hattelfingen: „Ich benötige wieder einen Grundschnitt, Frisör. Passt es heute?“
„Kannst gleich hierbleiben, Hans. Oder muss ich jetzt Kopfbergbauer zu dir sagen? Noch ne viertel Stund, dann bist du dran.“
„Sag zu mir was du willst aber schneid mir gefälligst die Haare schön“, erwiderte Hans im ungeschminkten Sprachgebrauch der Alb.
Hans ließ sich die schwarzen Kopfhaare kurz schneiden und die Bartstoppeln abrasieren. Den stets mit erhobenem Kopf getragenen und mit Bartwichse hochgehaltenen Zwirbelbart ließ er zurück stutzen, zu einem schmalen Schnäuzer unter der Nase, wie er politisch opportun wurde durch den neuen, von Reichspräsident Paul von Hindenburg eingeführten Reichskanzler Adolf Hitler.
Entgegen seiner Gewohnheit gab Hans dem Frisör reichlich Trinkgeld und sagte auffordernd: „Du hast doch Einfluss auf die Fußballer, Frisör. Ihr könnt euch am Sonntag zum Heimspiel am Kriegerdenkmal treffen und unserer Helden gedenken. Von da aus solltet ihr geschlossen zum Sportplatz marschieren.
Nach dem Spiel gebe ich Freibier aus. Vielleicht lässt sich dies öfter wiederholen. Ich denke, die anderen Bauern lassen sich beim Freibier auch nicht lumpen.“
„Geht in Ordnung, Hans. Wir machen das. Ich sprech noch mit Vorstand und Mannschaftskapitän. So wie ich sie kenne, sind sie gleich dabei. Vielleicht gibt’s ja auch mal Freibier und Würstchen.“
Maria stieg am Sonntag, eine halbe Stunde bevor die Glocken zum Besuch des Gottesdienstes aufforderten, bedächtig die Treppen zur Kirche hoch. Sie wollte im Halbdunkel ganz alleine nachdenken, über sich selbst, ihren Mann und die Zukunft ihrer drei Kinder.
„Lieber Gott gib“, betete sie leise, „dass wir nicht wieder Krieg und Armut bekommen! Es ziehen dunkle Wolken der Revanchisten auf. Ich möcht dies schreckliche Elend meinen Kindern ersparen!
Wenn du ein gerechter Gott bist, dann verhindere zukünftig jeden Krieg. Überall auf unserer Erde. Nichts ist menschenfeindlicher als Krieg. Wir Menschen brauchen Frieden. Alle!
Und ich wünsche mir noch, dass sich mein Mann wieder mehr der Familie und dem Hof zuwendet, nicht der Politik.“
Maria faltete ihre Hände so fest, dass ihre Knöchel in dunkler Kirche weiß durch die Haut schienen.
„Die Kameraden haben mir vorgeschlagen in Hattelfingen eine Ortsgruppe der NSDAP zu gründen und sie zu leiten!“ Hans Geyer sagte dies mit vor unbändigem Stolz geschwellter Brust. Es schien Maria Geyer als wäre ihr Mann um Zentimeter gewachsen.
„Musst du unbedingt annehmen, Hans?“
„Ortsgruppenleiter ist eine wichtige Aufgabe, Maria“, Hans nickte gewichtig mit dem Kopf, „eine Aufgabe die den Mann braucht und eine Aufgabe, nach der sich ein Mann sehnt. Vielleicht meine wichtigste Aufgabe im Leben überhaupt. Maria stell dir vor, ich, Hans Geyer, der ehemalige Knecht werde nun Ortsgruppenleiter, praktisch der von der Partei bestimmte Chef im Ort. Ich bestimme bald was geht in Hattelfingen, nicht mehr der Gemeindevorsteher!“
„Du kennst meine Meinung zu den Themen Militär und Politik, ich möchte mich nicht ständig wiederholen. Ich werde mich um den Hof kümmern und um unsere Kinder. Tu was du tun musst aber bitte lass mich da raus. Mir hat’s zu viele lautstarke Haudrauf an der Spitze der Partei und zu viele armselige, parolenhörige Mitläufer. Die können keine eigenen politischen Ideen entwickeln, geschweige denn unser Land in diesen schwierigen Jahren zum Besseren führen.“
„Maria ich will dir meine Gründe nennen, du solltest mich schon verstehen“, Hans Geyer krempelte die Ärmel seines Hemdes nach oben, „ich war als erster in Hattelfingen in die Partei eingetreten und es ehrt mich, dass ich der Ortsgruppe vorstehen darf. Ich bekomme eine Ortsgruppendienststelle im Rathaus, mit Schreibtisch, Stempeln und Telefon. Im Erdgeschoss verbleiben die zwei Schulklassen und darüber die Räume für den Bürgermeister oder Schultes oder Gemeindevorsteher, wie immer er sich auch nennt. Allein die Schreiberin teilen wir. Oben, wo seither Archiv und ähnlich unwichtiger Kontorenkram großzügig abgelegt wurde, wird mir ein neues Büro gebaut und eine Registratur erstellt. Ich sitze also direkt über einem „Schultes“ aus dem Christlichen Zentrum.“
„Und was sind die Aufgaben eines Ortsgruppenleiters?“
„Wie gesagt, ich stehe den mittlerweile knapp über Hundertzwanzig Mitgliedern vor. Das sind immerhin die Hälfte aller männlichen Wahlberechtigten. Und es werden mehr werden! Ich habe sogar Weisungsbefugnis gegenüber dem der unter mir sitzt, wenn dessen Handlungen nicht im Interesse der Partei ausfallen und ich habe die Berechtigung, Fragebögen über die politische Zuverlässigkeit aller Hattelfinger Bürger zu beantworten. Ich bin, Maria, eine neue Instanz. Hier in Hattelfingen. Ist dies nicht eine phantastische Entwicklung!“
Maria schaute lange ihrem Hans ins Gesicht. Sie entdeckte einen nie gekannten starren Wichtigblick in seinen früher weichen und braunen Augen, wie ihn sonst nur Monarchisten und Rechtspolitiker um sich warfen und hatte das Gefühl, sein Gesicht, der ganze Kopf würde sich eckig verformen. Langsam aber betont sagte sie:
„Hans, ich wünsche mir, den Kindern und dem Hof, dass du Mensch bleibst. Ich wünsche uns allen, dass du nicht zu viel Zeit und Energie in diesen Titel steckst und ich wünsche Dir viel Weitsicht und Glück bei allen Entscheidungen.“
„Der Führer, Maria, bringt uns den Fortschritt. Er eint das Deutsche Volk“, sagte Hans Geyer mit lauter Stimme. „Sieh nur wie er die Zahl der Arbeitslosen abbaut, wie er Autobahnen von Nord nach Süd und West nach Ost durchs Deutsche Reich zementieren lässt. Das internationale Ansehen wird rapide steigen, wenn wir nächstes Jahr mit Glanz und Gloria die XI. Olympiade 1936 in Berlin ausrichten werden. Auch die Olympischen Winterspiele werden den Ruf der fleißigen Deutschen in die Welt tragen. Zu diesem Zweck haben sich sogar die ehemals eifersüchtelnden Gemeinden Garmisch und Partenkirchen zu einer Stadt zusammengeschlossen.
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