Ohne Vorankündigung besuchte wenig später der Ortspfarrer die Familie Geyer. Zu Hans Geyer sagte er: „Glückwunsch, Hans. Bauernhöfe brauchen Nachwuchs. Wenn’s ein Bub wird, kann er kräftig hinlangen und dir mithelfen.“
Dann fragte der Pfarrer in würdevollem Unterton ohne eine Antwort zu erwarten: „Du wirst doch auch dein nächstes Kind im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes erziehen? Ich segne dich Maria Geyer, und das Ungeborene.“
„Ich bedanke mich bei ihm, geehrter Herr Pfarrer“, antwortete Maria gerührt.
Im Türrahmen der Haustüre bedankte sich auch Hans Geyer beim Pfarrer, mit dem üblichen Geschenk aus der letzten Hausschlachtung: „Für ihre werte Familie Herr Pfarrer, einen Ring Leberwurst, ein Stück Kesselfleisch und eine Blutwurst.“
Die Hausentbindung, Hebamme Babette war kurz nach Mitternacht gerufen worden, verlief reibungslos, fast schon routiniert. Wäre ein Mädchen zur Welt gekommen, hätte sie sich Emilia nennen dürfen. Maria wünschte sich heimlich ein Mädchen. Sie dachte über die ganzen Wehen hinweg immer wieder: „Emilia Geyer, Emilia Geyer, Emilia Geyer.“
Doch Wünsche gehen auch in den eindrucksvollsten Stunden einer Frau nicht immer in Erfüllung. Ein Junge blinzelte ängstlich in den Tag, vorsichtig ins Ehebett auf heiß gebügelte Laken gelegt. Er schaut als wäre er vor uns erschrocken, dachte Maria Geyer.
Einen Buben geboren, dachte Maria Geyer weiter, auch gut, dann habe ich meinem Mann Hans einen sehnlichen Wunsch erfüllt.
„Babette“, Maria Geyer sprach leise als könne ihr gerade geborenes Kind mithören und bereits verstehen, „irgendwie waren meine Zwillinge Anna und Jakob, mir fällt kein passendes Wort ein, irgendwie eindrucksvoller zur Welt gekommen. Oder täusche ich mich?“
„Mach dir keine Sorgen, Maria. Dich quält vielleicht die hormonelle Umstellung. Kinder verändern sich alle Wochen“, antwortete die Hebamme, „er wird sich bei euch auf dem Kopfberghof prächtig entwickeln. Schlaf nun ruhig ein paar Stunden. Ich bleib bei dir.“
Die ganze Familie ergötzte sich noch am Vormittag am gesunden, pausbäckigem, etwas zaghaft in die Welt schreienden Sohn und Bruder, der den Namen Georg erhielt, von allen jedoch, von der ersten Stunde an, „Schorsch“ genannt wurde.
Viele Jahre später, angestachelt von seiner Frau, sollte er sagen: „Bitte, darauf bestehe ich, nennt mich nicht dauernd Schorsch. Ich wurde auf den Namen Georg getauft.“
Furchterregend hing immer noch die böse Fratze des Ersten Weltkrieges überm Land. Dreimal länger als die blutige Auseinandersetzung an der Front gedauert hatte, spielte sich normales Leben immer noch nicht ein. Der wirtschaftliche Abschwung hinterließ in der mit voller Leistung auf Rüstung getrimmten Wirtschaft noch immer tiefe, irreparable Verluste, Jahr um Jahr.
„Wie lange noch müssen wir Hunger leiden“, klagten die Menschen in ganz Deutschland.
Die einschneidende Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre und die Reparationsleistungen produzierten arg geschundene, fast hoffnungslose Opfer. Knurrende Mägen, stundenlang dumpfes Schlange stehen um Arbeit, Leben ohne intellektuelle Abwechslung förderte extreme Feindbilder in allen Bevölkerungsschichten und verhalf heuchelnden Heilsbringern vom linken und rechten politischen Rand in die Erfolgsspur.
Je größer die Stadt umso schlimmer das Unheil. Ehemals feste Arbeitsplätze in Fabriken zerstieben wie sich pulverisierende Felsbrocken. Auf dem Höhepunkt der ersten weltweiten Inflation mussten für einen Laib Brot zwei Scheine mit dem Aufdruck „Eine Millionen“ hingelegt werden, genau so viel wie für ein Paar Schnürsenkel. Bereits der nächste Tag verteuerte wieder um fünfundzwanzig Prozent. Die heiß laufenden Druckmaschinen konnten nicht so schnell neues Geld auswerfen wie es an Wert verlor.
In Hattelfingen kehrte man zur Tauschwirtschaft zurück, fünf Sack Weizen gegen ein Paar einfache Arbeitsschuhe oder zwei Dutzend Eier und ein Pfund Kartoffeln für die Reparatur einer zerborstenen Fensterscheibe im Kuhstall.
Auf Alleen, Plätzen und in Versammlungsräumen der Ballungszentren schlugen sich täglich Kommunisten und Nazis die Zähne aus und zunehmend wurde die zunächst distanzierte Landbevölkerung hineingezogen. Propagandatrupps fuhren mit Lautsprecher bestückten Lastwagen durch die Dörfer und luden mit großartigen Versprechen zu ihren Versammlungen.
Hans Geyer sagte zu Maria: „Ich geh da mal hin, will sehen was die für Zukunftsideen haben. Zur nächsten Veranstaltung der Braunen fahr ich mit dem Fahrrad nach Ulm hinunter.“
„Warum Hans, warum willst du zu einer Parteiversammlung? Haben wir nicht hier auf dem Hof genügend zu tun?“
„Ich spüre, dass ich zu einem dieser Vorträge hinmuss. Wir brauchen wieder Strukturen, in Hattelfingen und in ganz Deutschland. Die demokratischen Streitereien in Berlin helfen nicht weiter. Ich brauch auch keinen Kaiser mehr aber ich will stolz sein können. Stolz auf uns alle!“
Maria schaute ihrem Hans sprachlos ins Gesicht. Nach Minuten quälender Stille sagte sie betont langsam:
„Ich frage dich Hans, hat es dich mit Stolz erfüllt, dass du im Namen des Reichs und der obersten Heeresleitung in fremde Länder einmarschiert bist, dir unbekannte Menschen getötet hast und selbst knapp dem Tod entronnen bist? Bist du darauf stolz, dass sich auf beiden Seiten unzählige Kriegsversehrte durchs Leben betteln müssen, weil sie nicht mehr Arbeiten können? Oder war es eher das geschickt aufgeputschte, blinde Vertrauen in die Interessen derer, die direkt von einem Sieg über andere Länder profitiert hätten? Waren wir nicht eine auf beiden Seiten von Kriegstreibern manipulierte junge Generation? Hat dich dieser Krieg stolz oder gar frei gemacht?“
Wieder folgte eine lange Pause in der beide, Hans und Maria Geyer in eine andere Ecke der Wohnküche schauten. Dann fuhr Maria mit leiser Stimme fort:
„Hans, erfüllt es dich mit Stolz, wenn diese Partei, deren Versammlung du heute Abend besuchen möchtest, demnächst Plaketten mit dem Posthorn auf den Briefkästen abschrauben lässt und durch Hakenkreuze ersetzt. Macht es dich stolz, wenn du dann vor jedem Briefkasten stehen bleiben musst, um, wie dir befohlen, die Haken zusammenhauen und ‚Heil mein Führer’ schreien musst?
Macht es dich im Gegensatz dazu nicht stolz ein erfolgreicher Bauer zu sein, ein freier Mann auf eigener Scholle? Frei in wenigen Jahren vom getilgten Kredit, frei von vielerlei Zwängen durch Politik, die von außen auf uns wirken könnte? Frei und stolz, sich nur der jeweiligen Jahreszeit und dem Wetter beugen zu müssen?
Macht es dich nicht stolz, unabhängig von jeglichen Ideologien zu sein? Warum willst du nicht ein stolzer Bauer auf dem Kopfberghof und ein gerechter, einfühlsamer Familienvater sein?“
Hans antwortete nicht. Er hatte keine Antwort. Er mochte seine Frau, die nie zuvor eine solch flammende Rede gehalten hatte, in etwa verstehen und suchte dennoch die Antwort außerhalb der Familie.
Hans Geyer wünschte sich eine starke politische Führung, sah darin Ruhe für seine Arbeit und wollte den Erwerberstolz auf sein eigen Land ungefährdet widerspiegelt sehen.
Er antwortete seiner Frau nicht, starrte nur reglos vor sich hin. Keine Mimik, keine Körpersprache, nicht ein einziges Wort. Er war verunsichert: Sie hat ja recht, aber ich auch!
Nach langen Minuten, Maria zitterte vor Erregung, stand Hans wortlos auf, strich sich die schwarzen Haare glatt, ging hinaus zur Scheune, holte das Fahrrad heraus, steckte sich Klammern an die Hosenbeine und fuhr ohne Abschiedsgruß nach Ulm zur Versammlung der NSDAP.
Maria Geyer sah ihm nach, bis er um die Ecke am Oberhof gefahren war. „Nicht umgedreht hat er sich“, murmelte sie enttäuscht. Sie nahm warmes Wasser vom Herd, wusch Ihre Haare und band den Zopf neu.
Читать дальше