Und noch mal, Hans, viel wichtiger für uns als Weltpolitik“, Maria Geyer trocknete die Hände am Küchenschurz und wackelte leicht mit dem Kopf, „ist unser eigener Bauernhof und Hans, wir sind glückliche Eltern. Wir müssen zwei sich wunderbar entwickelnden Menschen aus unserem Fleisch und Blut eine hoffnungsvolle Zukunft gewährleisten. Lass uns doch bitte darauf konzentrieren. Ja, ausschließlich darauf. Auf uns beide, unsere Kinder und unseren Hof. “
Die politische Welt der Zwanziger Jahre blieb unruhig. In den großen Städten Europas und Amerikas herrschte Massenarbeitslosigkeit und schnell um sich greifende Verarmung. Geduldig Schlange stehen wurde zum Synonym. Schlange stehen vor Kaufläden und stundenlang anstehen um Arbeit. Die weltweite Wirtschaftskrise verschlimmerte die Situation im besiegten Deutschland noch mehr und heizte Inflation und Lohndeflation an.
Ehrbare Demokraten gerieten in die Mühlen provokant verunglimpfender Schreihälse. Die Not wurde zum Geburtshelfer eingängiger Parolen und heizte den Siedekessel extremer Splitterparteien an.
„Alle mal herhören! Wir geben bekannt, dass heute Abend um Zwanzig Uhr eine wichtige Versammlung stattfindet!“ drang allenthalben durch Gassen und Straßen.
Paramilitärische Verbände, wie die SA der Nationalsozialisten, erhielten regen Zulauf.
Hans Geyer engagierte sich immer mehr politisch, Maria versuchte sonntags im Gottesdienst zu sich selbst zu finden und den Schutz für ihre Familie zu erbeten.
Vom nächsten Treffen des Kyffhäuser Bundes brachte Hans einen Zigarrenascher aus Steingut und eine Kaffeetasse samt Untertasse mit nach Hause. Auf allen drei Teilen war des Kaisers wehende Kriegsflagge in schwarz-weiß-rot gemalt, ein Eisernes Kreuz mit Lorbeerkranz in Gold und zierende Eichenzweige. Mittig, in markanter Runenschrift, ragte übergroß der Spruch heraus: In Treue Fest!
Maria, die heimlich und unverzagt daran glaubte, ihren immer noch geliebten Mann ändern zu können, kommentierte: „Hans, du bist doch gerne Bauer. Uns gehört ein Hof mit pflegeintensiven Äckern und Tieren. Dieser benötigt, das weißt du selbst, unser beider ganze Kraft. Unsere Themen heißen Saat, Ernte und Tierpflege und schlussendlich müssen wir uns um die Zahlungen an die Bank kümmern. Wir haben zwei liebe Kinder. Die Zukunft für unsere noch junge Familie liegt direkt vor uns. Hör bitte auf, den Soldaten zu spielen. Werde ein zufriedener und glücklicher Bauer!“
Hans Geyer schaute, ohne eine Antwort zu geben, unwirsch zu Boden und ging dann aus dem Zimmer.
Bereits die dritte Ernte der neuen Kopfbergbauern Hans und Maria Geyer überstieg alle Erwartungen.
„Ich wusste nicht, dass eine ertragreiche Ernte einfahren mehr Kräfte zehrt als nur pflügen und eggen,“ stellten die glücklichen Jungbauern fest, „unzählige Säcke mit Weizen und Gerste haben wir mit dem Hanfseil, über die Rolle am Giebel, in den Speicher im Dachgeschoss gehievt. Dazu den Bretterverschlag im Keller bis zum oberen Rand mit Erdäpfeln gefüllt.“ Das Schuldenkonto wurde schneller als vereinbart reduziert, Fritz erhielt zum Martinstag eine Extrazahlung und Maria konnte mit Hans nach Ulm fahren um eine Nähmaschine zu erstehen. „Unsere beiden Kleinen brauchen ständig neue Kleider, die wachsen und gedeihen wie unsere diesjährige Ernte“, begründete sie.
Anna und Jakob konnten bereits laufen und wurden für diesen Tag von Nachbarin Elfriede in Obhut genommen. „Mach ich gerne“, sagte diese, „die sind ja beide so lieb, das geht bei mir nebenbei.“
„Es ist schön Hans, mit dir in der Stadt zu sein“, sagte Maria in Ulm, „dies ist eine wunderbare Abwechslung. Solch einen Ausflug sollten wir uns jeden Herbst gönnen.“
„Aber um Fünf will ich wieder zu Hause sein, bin kein Stadtmensch und es wird bald dunkel“, entgegnete Hans Geyer und trat von einem Bein aufs andere.
Kurz nach Fünf waren sie tatsächlich wieder in Hattelfingen und zwei Wochen später wurde die Nähmaschine vom Händler angeliefert, auf einem laut knatternden, grün gestrichenen Lastwagen mit Holzspeichen und Vollgummireifen.
Alle Kinder in Hattelfingen liefen zusammen, um mit offenstehenden Mündern das selten im Dorf auftauchende Lieferfahrzeug und die fremden Leute aus Ulm zu bestaunen. Mit gebührendem Abstand beobachteten Buben und in der Reihe dahinter Mädchen, wie die gusseiserne Nähmaschine in den Kopfberghof getragen wurde.
Fahrer und Beifahrer erklärten in der sonst nur sonntags bewohnten Stube die neue Errungenschaft. „Kommen sie bitte her, wir wollen sie nun einweisen“, sagten einer der beiden Männer in grauer Arbeitsjacke und zeigte wie das Garn eingefädelt wurde, der Nähfuß angehoben und Vorwärts- und Rückwärtslauf des Stoffes eingestellt werden musste. „Weißes und schwarzes Garn haben wir mitgebracht, buntes müssen Sie beim Händler kaufen.“
„Umsonst mitgebracht?“
„Ja, umsonst, ist durch Vorführungen bereits etwas davon abgerollt.“
„Vielen, vielen Dank!“ Hans Geyer strich sich stolz seinen Zwirbelbart nach oben.
Alle standen sie staunend um die neue Nähmaschine. Fritz hatte die Heugabel zur Seite gelegt und zog die Schuhe aus um ins Wohnzimmer zu drängen. Hans und Maria Geyer schauten angespannt und erwartungsvoll, sogar Anna und Jakob hatten die aus Holz gezimmerte Eisenbahn in einen Tunnel aus alten Säcken geschoben.
„Ein technisches Wunderwerk“, staunte Fritz mit offenem Mund.
Maria zog einen Stuhl heran und setzte sich. Sie begann vorsichtig mit beiden Füßen das große Wipppedal zu betätigen, der runde Lederriemen setzte die gusseiserne Maschine auf dem Nähtisch in Gang und das eingelegte Perlmutt auf Gestell und Maschinenkopf schimmerte in vielerlei Farben.
Spät am Abend streichelte Maria über das dunkle Muttermal auf seiner Wange und flüsterte: „Hans, ich lieb dich.“
Am nächsten Tag ging Maria auf den Friedhof an der Kirche und sagte am Doppelgrab der ehemaligen Kopfbergbauern: „Ich danke euch für euer Vertrauen. Euch und Friederike, von der ich schon lange nichts mehr gehört habe.“
Maria Geyer blieb kaum Muse. Ein Knecht nur und Zwillinge, die begannen zu reden und zu fragen und einen Mann der sich zunehmend von der Familie weg, einer rechten Partei zu wand. Hin und wieder dachte sie an Zeiten zurück, als Mägde und Knechte in den ruhigen Wintermonaten im Kreis zusammensaßen, Instrumente erklingen ließen und gemeinsam Lieder sangen:
„Am Brunnen vor dem Tore,
da steht ein Lindenbaum…“
Hab keine Zeit mehr für Lieder und Tänze. Als Bäuerin und zweifacher Mutter bleibt keine Zeit für Müßiggang, dachte sie, und Hans wird durch die hohe körperliche Belastung in seiner Seele immer härter. Oder ist es der Einfluss der Uniformierten?
Ja! Das ist es. Eindeutig, dachte Maria. Früher sangen wir eng aneinandergeschmiegt, gemeinsam Volkslieder und heute kommt er nachhause und singt das Horst-Wessel-Lied vor sich hin:
„Die Fahnen hoch
die Reihen fest geschlossen,
SA marschiert
mit ruhig festem Schritt…“
Jakob und Anna, die fast unzertrennlichen Zwillinge, strahlten bald in alle Winkel des Kopfberghofs helle Freude ab und entwickelten sich so prächtig, dass von Zeit zu Zeit alle ernsthaften Fragen der Erwachsenen in den Hintergrund rückten. „Nun darf ich erleben, dass Kinder glücklich machen können“, freute sich Maria Geyer.
In den ersten warmen Tagen des folgenden Frühjahrs spürte Maria dann immer wieder Übelkeit. Sie besuchte Babette, die Hebamme. Diese sagte in ihrer direkten Art:
„Freu dich, Maria. Anna und Jakob waren damals die Folge einer ungewollten Schwangerschaft. Nun bekommt ihr zu diesem aufgeweckten Paar noch ein Wunschkind.“
„Ja, ich freue mich“, antwortete Maria knapp. Auf dem Nachhauseweg überlegte sie lange, wie sie diese erneute Schwangerschaft ihrem Mann beibringen sollte. In einer Zeit jedoch, in der Kinderzahlen weit über einem halben Dutzend als üblich angesehen wurden, akzeptierte Hans den Ausfall der Frau als Arbeitskraft bald.
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