Allmählich reicht ihm das Gewusel und die Geräuschkulisse und er beschließt, aufzubrechen. Die Schwüle und die Hitze des Tages haben vor der Nacht kapituliert. Jetzt lässt es sich gut auszuhalten. Er genießt die jetzt kühlere Luft. denkt mit Grauen an die Tropenhitze, die ihm in seinem Appartement erwartet. Gemächlich, um diesen näher rückenden Zeitpunkt hinauszuschieben, schlendert er der Haltestelle entgegen.
Als er in die Tiefe des U-Bahn-Tunnels eintaucht, trifft es ihn wie ein Klimaschock. Ein Lautsprecher knackt. Eine weibliche Stimme verkündet die Einfahrt der Linie 3. Zischende Türen geben zögerlich den Weg ins Wageninnere frei.
Hitze und unglaublicher Mief prallen im aus dem U-Bahn-Wagen entgegen. Für einen Moment hält er die Luft an. Der Geruch nach Schweiß, untermalt von billigem Parfüms und anderen Düften ekelt ihn an. Verhalten atmet er weiter. Von irgendwo dringt penetrant der Ausdünstung von „ungewaschener Mensch“ in seine Nase.
Für diese Tageszeit ist die Bahn erstaunlich voll, überwiegend junge Leute. Auch hier versucht er, die Umgebung zu absorbieren und sich jedes Detail einzuprägen. Ich sollte öfter das Großraumtaxi benutzen, da sieht man die faszinierendsten Leute . Links von ihm kuschelt ein wild knutschendes Pärchen. Außer ihren Rücken gibt es nicht viel zu sehen. Vielleicht sollte er sie bitten, sich umzudrehen. Er grinst, schaut diskret zur Seite. Hinten in der Bahn, auf zwei Doppelsitzen, drängelt sich eine Horde Jugendlicher. Jeder präsentiert eine andere, mit viel Gel zusammengehaltene Frisur. Eine Haarpracht exotischer aus als die andere. Wahrscheinlich wollen sie einander im extravaganten Aussehen übertrumpfen. Einer bildet eine Ausnahme. Statt des verrückten Haarschopfs glänzt er mit einem glatt rasierten Schädel, in welchem sich die Oberbeleuchtung der Bahn spiegelt. Die Teenys verursachen einen Heidenlärm, foppen sich gegenseitig. Ihre lautstarke Unterhaltung in typischer SMS-Konversation nervt die Fahrgäste. Doch Niemand protestiert. Ab und zu schlägt einer dem anderen auf den Oberarm oder den Rücken. Wahrscheinlich kommen die ebenfalls aus irgendwelchen Gartenlokalen, oder Discos. Aber bei dieser Hitze das Tanzbein schwingen, ist bestimmt nicht so toll, also eher Biergarten. Der Beobachter drückt ein paar Mal auf sein Handy. Die eingeschaltete Kamera, sieht nur er. Plötzlich schreit einer der Jungs schmerzvoll auf. Da ist wohl ein Schlag zu hart ausgefallen. „Ehhh Mann, spinnst du, du Penner!“ Brüllt der Getroffene und gibt den nicht mehr freundschaftlichen Hieb zurück, woraufhin sein Gegenüber an der Reihe ist, das Gesicht schmerzhaft zu verziehen, jedoch nur für einen Moment. Rasch setzt er erneut die gewollt „coole“ Miene auf.„Ehh Mann, mach dich locker Alter!“ Alle Jungs grölen! Ein reifes Ehepaar, links von ihm, an der Eingangstür, fährt erschrocken zusammen. Verängstigt rücken sie zueinander und schielen fortgesetzt, wie sie annehmen unauffällig, zu den lärmenden Jugendlichen. In ihren Gesichter liest er. Wer laut ist, der macht auch Ärger. Ein junges Paar betrachtet stolz den selig schlafenden Nachwuchs in der Kinderkarre. Gesicht und Haare des Kleinkindes sind nass vor Schweiß. Selbst im Schlaf lässt es die leergetrunkene Milchflasche nicht los. In einer anderen Ecke der Bahn kauert ein verwahrlost aussehender Mann, das Alter schlecht zu schätzen. Ein strenger Duft umgibt ihn. Ein Geruch, den man ihm ansieht. Auch er umklammert eine Flasche, ebenfalls leer. Den Kopf auf die Brust gesunken, schnarcht er leise. Im Wechsel sind schmatzende Geräusche, oder ein Blubbern der Lippen zu hören. Vom entgegengesetzten Ende schlurft eine Frau heran. Nicht alt, aber auch nicht mehr jung, irgendwo dazwischen. Die Haare zottlig. Die Farbe kann sich nicht zwischen blond oder grau entscheiden. Die Frisur steht buchstäblich zu Berge, weist in sämtliche Himmelsrichtungen. Leise brabbelnd steuert sie den Gang hinunter geradewegs auf ihn zu. Hoffentlich spricht die mich nicht an! Wahrscheinlich hofft er vergebens. Es sieht ganz danach aus, als wenn sie vorhat, das Befürchtete in die Tat umzusetzen. Den Kopf hält sie gesenkt. Aber er erkennt trotzdem ihre Augen, wie sie ihn taxieren, wie sie plant, ihn gleich anzuquatschen. Bestimmt wird das so ein esoterisches Zeug sein. Und sie wird die ganze Zeit an mir kleben. Rasch guckt er zur Seite, hofft, das lenke sie von ihm ab, fleht, es möge helfen. Eine unsichtbare weibliche Stimme verkündet „Nächste Haltestelle Kröpcke“. Die Bahn hält ruckend und lässt ein junges Mädchen einsteigen. Extrem lange Beine stechen augenblicklich ins Auge. Sie schiebt ein Fahrrad, mit einem Platten, stellt es an den dafür vorgesehenen, ausnahmsweise mal freien Platz. Lässig lehnt sie an der Haltestange, die Beine vorgeschoben. Er sitzt ihr gegenüber. Diese Beine springen ihm geradezu ins Gesicht, das irritiert, stört ihn. Aufdringlich, wie sie so da steht, so herausfordernd! Er will es nicht, doch er muss sie ansehen. Das Mädchen trägt einen knappen Jeanshort, der die wohlgeformten Beine betont. Er sieht nichts als Beine. Nur Beine! Das müsste verboten sein, bei solchen Beine! Sie stellt sich geradezu zur Schau. Ist das ihre Absicht?! Er will, nicht ständig zu ihr hinblicken und wendet seine Aufmerksamkeit wieder den anderen Mitfahrenden zu. Das Zottelweib befindet sich Gott sei Dank jetzt am anderen Ende der Bahn und hält nach einem neuen Opfer Ausschau. Seine Blicke suchen das Mädchen. Sie ist hübsch, mit langen, hellbraune Haare. Aber das stellt er nur am Rande fest, es interessiert ihn weniger. Immer wieder starren seine Augen auf die Beine. Unruhe ergreift ihn. Nervös streichen seine feuchten Hände über die Oberschenkel. Seine Anspannung ist enorm. Es fällt ihm schwer, nicht mit den Beinen zu zittern. Er ballt die Hände zu Fäusten, öffnen sie, fährt wieder fahrig auf seinen Oberschenkeln umher. Warum stellt sie sich ausgerechnet vor mich so hin! Will sie mich herausfordern? Die Bahn stoppt. Haltestelle Lister Meile. Sie greift ihr Fahrrad, steigt aus. Er folgt ihr.
Kapitel 4 Die Bank
Die Angebote interessieren ihn nicht wirklich. Verdrossen wirft der distinguiert aussehende Mann den Auktionskatalog für Antiquitäten auf den Schreibtisch. Er will nur eines, dem Arbeitszimmer entfliehen und zieht erneut seine goldene Taschenuhr aus der Westentasche. Diesmal ist er zufrieden mit der Chronometeranzeige. Seine Lippen kräuseln sich zu einem Lächeln. Mittagspause! Obwohl er als Chef, er Pause machen könnte, wann er wollte, aber er hat so seine Prinzipien. Was würde Mutter sagen! Beschwingt klappt er den Deckel der alten Uhr zu, nicht ohne kurz über die kunstvollen Intarsien zu streichen. Heiter durchschreitet er die Verkaufsräume seines Antiquitätengeschäftes, während er die Uhr zurücksteckt. Beim Betrachten der kostbaren Errungenschaften glänzen seine Augen vor Stolz. Er liebt den Laden, mit den exquisiten Antiquitäten. Manchmal jedoch fühlt er sich eingeengt. Dann erträgt er die Räumlichkeiten nicht, muss raus, Weite und Luft spüren. Vor der Tür des Ladengeschäftes, das in der hannoverschen Altstadt liegt, hält er für einen Moment geschockt inne. Die Hitze prallt ihm entgegen, als liefe er gegen eine Feuerwand. Geblendet schließt er die Augen. Er will das Jackett abzulegen, als die Geisterstimme seiner Mutter ertönt. Ein Mann, der auf sich hält, muss stets ordentlich, korrekt aussehen . Von Kindheit trichterte sie ihn das an ein. Als wäre diese Erinnerung eine Aufforderung liefert ihm sein Gehirn jetzt unaufgefordert Bilder aus der Vergangenheit: Es kommen Gäste. Mama legt ihm Anzug und Krawatte hin. Er muss sich fein machen. Das gefällt ihn nicht, andererseits ist er glücklich, weil sie ihn beachtet. Er gibt den wohlerzogenen Sohn, begrüßt die Besucher, gibt jeden die Hand, dazu eine leichte Verbeugung, wie Mama es ihm beibrachte. Das liebt sie . Zufrieden steht sie neben ihm. Sieht jemand zu ihnen hin, legt sie liebevoll ihre Hand auf seinen Kopf oder streicht ihm sanft über die Wange. Obwohl er weiß, warum sie das tut, genießt er es. Mama mag es, wenn die Leute über den großen Jungen staunen, den man ihr gar nicht ansieht, manche sagen sogar, er stünde ihr gut! Seine wunderschöne Mama strahlt, nimmt ihn in den Arm. Dann wünscht er, sie hätten öfter Gäste.
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