Längst war Jerusha jede Lust vergangen, von ihrer Statue der Shimounah zu erzählen. Nun spürte sie Zorn in sich aufflammen. „Tut mir leid, ich habe andere Pläne“, sagte sie kühl. „Ich will zu Dario, es gibt eine Menge vorzubereiten. Außerdem ist Großmutter noch nicht da, eine Weile kann es bestimmt warten, oder?“
Ihre Mutter schien Jerushas Zorn nicht einmal zu bemerken, oder er war ihr gleichgültig. „Ich richte das Abendessen, kümmer du dich um deine Aufgaben.“
Zu Jerushas Pflichten gehörte es, Wasser vom Brunnen zu holen, Brennholz zu hacken sowie morgens und abends die Hühner zu füttern. Nach einem harten Arbeitstag, an dem ihr Arme und Rücken von der Arbeit schmerzten, war das eine Quälerei, doch Jerusha lehnte sich nicht dagegen auf. Es gab eine viel bessere Lösung. Und die bog gerade um die Ecke.
„Shani!“ jubelte ihre kleine Schwester Liriele und lief Jerusha leichtfüßig entgegen, den Eibenholzbogen noch in der Hand und einen mit Pfeilen viel zu vollgestopften Köcher über der Schulter. Langbeinig wie ein Fohlen war sie, und jetzt – mit zwölf – schon ebenso groß wie Jerusha. Wahrscheinlich wird sie mich bald um einen halben Kopf überragen , dachte Jerusha. Dann warf sich Liri auch schon in ihre Arme und fast hätten sie beide das Gleichgewicht verloren.
„Na, gut getroffen heute?“ lachte Jerusha.
„Ja, hat ganz gut geklappt.“ Liri setzte ein betont gleichmütiges Gesicht auf. Jerusha wusste, dass Liri untertrieb – die KiTenaros waren fast alle berühmte Bogenschützen, und Liri hatte dieses Talent geerbt. Ihre Augen waren unglaublich scharf und sie verfehlte selten ihr Ziel. Leider kam dabei selten etwas für den Kochtopf heraus, weil sie in Tränen ausbrach, wenn sie ein totes Tier sah.
„Ich habe eine gute Idee – hast du Lust, mit mir zusammen Wasser zu holen?“ Diesmal war es Jerusha, die gleichgültig tat.
„Eigentlich nicht. Ich muss noch üben, einmal hatte ich einen Pfeil im roten Ring, das passiert mir sonst nicht.“
„Ich habe heute mit Alef gesprochen.“
„Du hast mit Alef gesprochen?“ Liris Augen leuchteten auf. „Erzähl! Erzähl mir alles!“
„Und, holst du mit mir Wasser?“
„Na klar. Komm, wir gehen gleich los.“
Jede nahm zwei Eimer, dann machten sie sich auf den Weg zum Dorfbrunnen. Andächtig lauschte Liri, als Jerusha erzählte, was Alef zur Statue der Shimounah gesagt hatte. Woran er selbst gerade arbeitete. Was er zur Brotzeit dabei gehabt hatte. Nur wie Goram Alef genannt hatte, ließ Jerusha lieber aus.
Als Jerusha wirklich gar nichts mehr einfiel, was sie noch über den faulsten Lehrling der Tempelbaustelle erzählen konnte, war die große Zinkwanne im ersten Stock gefüllt und das hölzerne Wasserfass in der Küche auch. Schnell zog sich Jerusha aus und ließ sich mit angehaltenem Atem in das kalte Wasser gleiten. Prustend tauchte sie wieder auf, spülte schnell ihre Haare aus und knetete ein paar Tropfen selbstgepresstes Nachtlilienöl hinein.
Ein Dutzend der seltenen Nachtlilien wuchsen ausgerechnet hinter dem Haus der KiTenaros, und Jerusha hegte sie schon seit ihrer Kindheit. Die handgroßen, elegant geschwungenen Blüten waren von einem tiefen Schwarz mit einer Ahnung von Violett darin, die Farbe des Himmels wenn das letzte Abendrot gerade daraus geschwunden ist. Nur nachts dufteten sie, und dann hielt jeder, der noch an ihrem Haus vorbeikam, einen Moment lang inne. Es war ein süßer, und doch herber Duft; Jerusha fand, dass die Blüten wie eine wunderbare und zugleich traurige Erinnerung rochen. Als sie Liri einmal gefragt hatte, woran sie der Duft erinnere, hatte sie gesagt: „Sie riechen so wie die Luft nach einem Gewitter, nur noch schöner.“
War eine ihrer Nachtlilien verblüht, pflückte Jerusha sie vorsichtig, presste Blüte und Samen aus und vermischte den Tropfen violetter Flüssigkeit, der dabei entstand, mit Mandelöl; dabei blieb der Duft erhalten. Schon oft hatten Frauen aus der Umgebung sie gefragt, ob sie etwas davon haben könnten, doch Jerusha hatte früh gelernt, wie man solche Bitten mit einem freundlichen Lächeln ablehnte. Und es war sinnlos, Samen der Nachtlilien zu verschenken – sie weigerten sich, an einem anderen Ort zu wachsen.
Frisch gebadet und frierend lief Jerusha die Treppe wieder nach unten. Ihre Mutter hatte den Maisbrei fertig, ein paar Gemüsestücke waren darin. Liri und Jerusha aßen beide hastig; Liri wollte zu ihren Zielscheiben zurück und Jerusha endlich zu Dario. Ihre Arbeit im Haus war erledigt: Brennholz war noch genug da und das Füttern der Hühner hatte sie bei Liri vor Kurzem gegen ein Alef-Porträt aus gebranntem Ton eingetauscht.
Gerade als sie aus dem Haus gehen wollte, kam Kala KiTenaro, ihre Großmutter, herein. Sie war eine hochgewachsene Frau, doch da sie gebückt ging, wirkte sie kleiner. Ihre schulterlangen grauweißen Haare lugten unter der Lederkappe hervor, die sie immer trug. Im Halbdunkel des Eingangs sah Jerusha ihre trüben Augen. Erloschen, dachte Jerusha manchmal. Irgendwann ist das Lebensfeuer in ihnen erloschen. Auf einmal hatte sie es noch eiliger, wegzukommen. Doch ihre Großmutter ergriff sie am Arm, faltig und trocken fühlte ihre Hand sich an. „Ich habe dir etwas zu sagen, Jerusha.“
„Später. Bitte.“ Vorsichtig entzog sich Jerusha ihrem Griff. „Dario wartet auf mich. Ich bin bald zurück.“
Mit schnellen Schritten ging sie den Pfad entlang, der zu Darios Haus führte; es lag ein wenig außerhalb, am Rand der Craunenwälder. Kaum zu glauben, dass er und sein Bruder erst seit einem knappen Jahreslauf in Loreshom wohnten. Jerusha erinnerte sich noch gut daran, wie sie zum ersten Mal von ihnen gehört hatte. Irini, die sich für alle Neuigkeiten im Dorf zuständig fühlte, berichtete mit blitzenden Augen, dass zwei junge Männer aus dem Familienclan der WiTanek auf der Durchreise in der Schänke haltgemacht hatten; sie suchten einen Ort, an dem sie eine Goldschmiedewerkstatt eröffnen könnten.
„Stell dir vor, sie haben dieses Bildnis in Ton, das du mal von Lulé gemacht hast, in der Gaststube gesehen“, erzählte Irini und brüllte zwischendurch ihrem Sohn Xander zu, er solle gefälligst aufhören, seinem armen Frosch Nüsse ins Maul zu stopfen. „Und das Beste ist“, Irinis Stimme senkte sich zu einem dramatischen Flüstern, „sie haben gefragt, wer der Künstler sei und ob sie ihn kennenlernen könnten!“
Wider Willen fühlte sich Jerusha geschmeichelt, dass den Fremden die Skulptur, in der sie die zerfurchten Züge der Wirtin verewigt hatte, aufgefallen war. Doch obwohl sich die beiden tatsächlich in Loreshom niederließen, sah Jerusha sie lange Zeit nur von Weitem. Sie wusste wenig mehr über sie, als dass sie Dario und Laric hießen. Und den anderen Dorfbewohnern ging es ähnlich. Was natürlich dazu führte, dass das ganze Dorf rasend neugierig war auf die Fremden und ihre geheimnisvolle Werkstatt. Hin und wieder trafen gut gekleidete Boten bei den WiTaneks ein, manche von ihnen mit dem Wappen eines Fürstenhofs auf dem Wams. Sie holten dick in Tücher verpackte Waren ab und ritten wieder davon. Hinter ihnen schloss sich die Tür der Werkstatt wieder und verbarg, was darin geschah.
Dann kam der Tag des Frühlingsfests, mit dem in jedem Jahreslauf die Weidesaison begann. Jerusha und Kianna feierten es in Reth Elshak, wo sie beide jede Woche Waren – Kiannas selbst angefertigte Kleidung und Jerushas Küchenutensilien aus Stein – auf dem Markt verkauften. Vor einem lichtblauen Himmel flatterten überall bunte Bänder im Wind, und der Geruch nach frisch gebackenem Malzbrot lag in der Luft. Jerusha lachte übermütig und zog Kianna mit sich, als der verkleidete Wolf die Kinder durch die Straßen jagte. Sie aßen die traditionelle Rahmsuppe mit Sauerlauch und tanzten, dass ihre Röcke flogen.
Während Kianna gerade von einem der jungen Männer aus Reth Elshak umhergewirbelt wurde, sichtete Jerusha Dario, den jüngeren und hübscheren der beiden WiTanek-Brüder. Den mit dem hellbraunen Lockenkopf. Locker und entspannt stand er am Rand der hölzernen Tanzfläche, flirtete beiläufig mit dem Schwarm junger Frauen um ihn herum… und lächelte plötzlich, als ihre Blicke sich trafen. Kurz darauf tauchte er neben ihr auf.
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