Mit Viktoria läuft es ausgezeichnet. Am Mittwochmorgen im Marketing-Team-Meeting bemerke ich, dass niemand sich Notizen macht. Unbeachtet von allen öffne ich meinen Computer und schreibe das, was mir am wichtigsten zu sein scheint, mit. Nach dem Meeting verarbeite ich das Ganze zu einem kurzen Protokoll, wobei ich der recht simplen Struktur des Meetings folge: Highlights of the week, lowlights of the week, open questions, next steps. Dann schicke ich es Viktoria mit der Bitte um Verbesserungsvorschläge. Durchaus möglich, dass ich einiges nicht richtig verstanden habe.
»Wow, Clara!«, ruft sie plötzlich aus und dreht sich mir zu. »Das sind die besten Meeting Minutes, die ich je gelesen habe! Kurz, knackig und klar. Bravo!«
»Danke«, erwidere ich geschmeichelt.
»Ich hab’ fast Lust, Peter mal zu fragen, ob du nächste Woche mit ins ELM kommen kannst. Solche Zusammenfassungen würden uns da echt weiterhelfen«, sagt Viktoria. »Ich sag’ dir Bescheid.«
Wow!, denke ich. Das ELM ? Das Executive Leadership Meeting ? Und allein bei dem Gedanken, beginne ich vor Nervosität zu schwitzen. Dennoch – eindeutig mein Highlight der Woche.
Weniger begeistert bin ich, als ich am Abend nach Hause komme.
»Was ist denn mit dir passiert?«, frage ich Gwenael, nachdem Melanie sich verabschiedet hat.
»Wir haben nach der Schule noch Fußball gespielt, und ich habe den Ball ins Gesicht bekommen«, antwortet er.
Seine Nase weist noch die Spuren von Blut auf und er hat Kratzer im Gesicht.
»Die Kratzer sind von einem Fußball?«
»Nein, von meiner Brille«, entgegnet er.
»Wo ist sie denn?« Mir fällt erst jetzt auf, dass er sie nicht trägt.
»Die ist dabei kaputtgegangen. Sie liegt in unserem Zimmer«, sagt er so gelassen, dass es mich trotz meiner vor ein paar Minuten noch ausgezeichneten Stimmung fast wütend macht.
»Gwenael, wann wirst du endlich lernen, deine Brille beim Fußball abzusetzen? So schlecht sind deine Augen nicht! Der Arzt hat klar und deutlich gesagt, dass du problemlos ohne Brille Sport machen kannst.«
»Ich hab’ sie schon wieder geklebt«, entgegnet Gwenael, als wenn das Thema damit vom Tisch wäre.
Ich atme tief durch und entscheide, es dabei zu belassen.
»Wieso hast du überhaupt Fußball gespielt? Ihr solltet doch sofort nach der Schule nach Hause kommen, damit Emil nicht allein mit Melanie ist.«
»Wir hatten doch heute nur ein paar Stunden«, entgegnet Gwenael. »Wir wären viel zu früh da gewesen.«
»Wieso?«, frage ich.
»Weil heut’ der letzte Schultag war«, kommt Désirée ihrem Bruder zu Hilfe und rollt mit den Augen, als wäre ich dämlich.
»Ach, das hatte ich ganz vergessen.« Hatte ich wirklich. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen.
Dann fällt mir etwas ein.
»Dann habt ihr ja auch eure Zeugnisse bekommen!«
»Nur Gwen«, widerspricht Désirée. »Ich hab’ nur so Kuchen.«
Das stimmt. Ich war zwar nicht auf dem Elternabend am Anfang des Schuljahres, doch ich habe im Protokoll des Elternabends gelesen, dass die Eltern wählen durften, ob es richtige Schulnoten geben sollte oder nicht. Diese Wahl fiel zuungunsten von Noten aus. Daher bekommt Désirée statt Noten Kreise, die entweder gar nicht, zu einem Viertel, zur Hälfte, zu drei Vierteln oder ganz ausgemalt sind. In ihrem Sprachgebrauch Kuchen.
»Und?«
»Ich hoffe, du hast Hunger«, sagt Désirée fröhlich.
»Wieso?«
»Du verstehst ja heute gar nichts«, meint Gwenael. »Sie hat viele ganze Kuchen.«
»Fünf«, präzisiert Désirée. »Und zwei halbe. Bei den anderen fehlt ein Stück.«
Drei Viertel also , denke ich. »Und wie viele sind das?«
»Oh, viele. So zwanzig oder dreißig.«
Das sind erfreuliche Nachrichten. Ich wende mich an Gwenael. »Und bei dir?«
»Keine Kuchen«, entgegnet er.
Ich verdrehe meinerseits die Augen, muss aber nichts sagen.
»Hier«, sagt er und reicht mir ein Blatt in einer Klarsichthülle.
Ich nehme es und starre auf das Zeugnis. Zweien in Sachunterricht, Ethik und Sport. Eine Drei in Mathe. Tja, das war wohl nach der letzten Klassenarbeit nicht anders zu erwarten gewesen. In Deutsch, Englisch, Musik und Kunst Einsen.
»Das ... ist ziemlich gut, oder?«, frage ich.
Er zuckt mit den Schultern, doch ich sehe ihm an, dass er stolz ist.
»Bravo, ihr zwei«, sage ich und lächele. »Und du, Emil? Wo ist dein Zeugnis?«
Er zieht die Nase kraus. »In der Kita gibt’s kein Zeugnis.«
Das weiß ich natürlich.
Leider gibt es nicht nur gute Neuigkeiten. Wenig später erlebe ich das Lowlight meiner Woche, als wir ein letztes Mal vor dem Urlaub der Kinder gemeinsam auf den Matratzen im Kinderzimmer liegen und auf dem tollen Bildschirm meines neuen MacBooks ein Video auf YouTube ansehen.
»Der Computer ist wirklich cool«, meint Emil plötzlich. »Aber deine neue Arbeit mag ich nich’. Kannst du nich’ den Computer ohne die Arbeit haben?«
»Wieso magst du meine Arbeit nicht?«, frage ich überrascht.
»Weil du jetzt immer erst viel später nach Hause kommst und immer nur die blöde Melanie da ist«, entgegnet Emil, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Ein schneller Blick auf Gwenael und Désirée sagt mir, dass sie das so zwar niemals gesagt hätten, aber genauso empfinden wie Emil. Und mein Herz wird schwer.
Kapitel 11
Als wir Samstagmittag bei meiner Mutter ankommen, fällt mir auf, wie alt sie geworden ist. Die Kinder scheint das nicht zu stören, sie begrüßen ihre Großmutter überschwänglich und sind bald darauf verschwunden, um in einem nahen Bach einen Staudamm zu bauen. Die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter ist schon seit Jahren nicht mehr die beste. Spätestens seit Guillaume. Sie mochte nichts an ihm. Dass er so gut wie kein Deutsch sprach, sich auch nicht bemühte, dass er nicht Deutscher war, wie er sich mir gegenüber benahm. Im Nachhinein hatte sie in dem letzten Punkt wahrscheinlich recht – nur war ich zu verliebt, um es zu sehen. Dass ich dann auch noch mit einem ausländischen Taugenichts eine Familie gründete, trieb sie zur Weißglut, und sie ließ uns darüber auch nicht im Unklaren. Immerhin hat sie ihren Ärger über mich und Guillaume nie an den Kindern ausgelassen, im Gegenteil.
»Das Essen ist in einer halben Stunde fertig«, kündigt meine Mutter an, nachdem auch wir uns begrüßt haben. Mit diesen Worten verschwindet sie in die alte Küche. Ich seufze, obwohl ich es nicht anders gewohnt bin. Dann bringe ich das Gepäck der Kinder in den ersten Stock. Der Zustand des Hauses verschlechtert sich kontinuierlich. Seit mein Vater vor knapp zwanzig Jahren gestorben ist, lebt meine Mutter allein hier und in den letzten Jahren hat sie sich immer weniger um Sauberkeit bemüht. Es steht im krassen Gegensatz zu der Wohnung des Grafen und der Gräfin oder der der Kramers. Hier bei meiner Mutter würde es mich nicht vier Stunden, sondern wahrscheinlich weit mehr als vier Tage kosten, wenn ich alles mal wieder auf Vordermann bringen wollte. Doch das würde meine Mutter nie wollen. Sie will auf keinen Fall, dass ihr Haus aussieht wie die Wohnungen »dieser hochnäsigen neureichen Berliner«, die sie mit einer fast noch größeren Leidenschaft verabscheut als Ausländer.
Während des Mittagessens herrscht dank der Kinder eine ausgelassene Stimmung. Sie diskutieren lebhaft ihren Staudamm und haben sogar schon einen Frosch gefangen, ihn aber dann wieder freigelassen. Am Nachmittag wollen sie gucken, ob Doreen und Ronny, zwei Kinder in Gwenaels und Désirées Alter, zu Hause sind.
»Nele, hast du auch einen Nachtisch gemacht?«, fragt Emil, nachdem er seinen Teller zweimal geleert hat.
»Natürlich, mein Süßer«, erwidert meine Mutter. Emil ist ihr Liebling. »Ich habe für dich und deine Geschwister einen großen Schokopudding gemacht. Magst du so was?«
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