Am nächsten Morgen, sie war später dran als sonst, eilte sie die Treppe hinunter, um den nächsten Bus noch zu erreichen. Schon am Hauseingang wurde sie von Putkins Leuten gestoppt. „Frau Dr. Smirnow, wenn Sie bitte mitkommen. Der Chef möchte Sie sehen.“
Ihr bleib nichts anderes übrig und so stieg sie in den Wagen. „Ich muss zur Arbeit, ich bin schon spät dran.“ Der Kleine war an diesem Tag auffallend höflich und beruhigte sie. „Keine Sorge, es ist alles geregelt. Man hat Sie für einige Zeit freigestellt.“
Tatjana fiel auf, dass sie diesmal einen anderen Weg fuhren. „Wo fahren Sie mich hin? Ich dachte, wir wollen zu Herrn Putkin?“ „Wir werden gleich da sein“ entgegnete ihr der Kleine. Wenige Minuten später hielten Sie vor der exklusiven Boutique, deren Angestellten sie schon ihr Herz ausgeschüttet hatte. Ihre beiden Begleiter folgten ihr noch bis vor den Eingang, betraten den Laden aber nicht.
Eine Dame mittleren Alters öffnete ihr die Tür. Tatjana fiel sofort die schicke und geschmackvolle Kleidung an ihr auf. Alles war aufeinander abgestimmt, von den Schuhen über das Kostüm bis zu ihrem Halstuch. Selbst der Schmuck, den sie trug, schien eigens dafür gemacht. Sie nahm Tatjana in den Arm und vermittelte ihr ein Gefühl des Willkommenseins. „Seien Sie herzlich gegrüßt, Frau Dr. Smirnow, mein Name ist Natalia Medvedew. Herr Putkin hat mein Geschäft heute exklusiv für Sie reservieren lassen. Ich stehe Ihnen zur Verfügung, so lange Sie mich brauchen. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns.“
Tatjana wusste nicht wie ihr geschah. „Herr Putkin hat mir schon angedeutet, mir bei Ihnen etwas aussuchen zu dürfen, aber das hier verschlägt mir die Sprache.“
„Nicht so schüchtern, lassen Sie sich Zeit und nehmen Sie, was Ihnen gefällt. Sie werden das ein oder andere Designerstück sicher demnächst auf Ihrer Geschäftsreise brauchen. – Und heute Abend sollten Sie elegant aussehen, Herr Putkin möchte mit Ihnen essen gehen. Enttäuschen Sie ihn nicht.“
Mehrere Stunden war Tatjana damit beschäftigt Gardarobe zu sichten und zu probieren. Am frühen Nachmittag füllten Kleider, Kostüme, Röcke, Blusen und Jacken einen fast zwei Meter langen fahrbaren Kleiderständer. Auf einem separaten Wagen stapelten sich noch vier Schuhkartons und drei aufgerollte Ledergürtel, Tücher und dazu passende Ketten und Armreife.
Noch während Frau Medvedew sich von Tatjana verabschiedete und ihr für die Zukunft alles Gute wünschte, verluden ihre beiden Fahrer die gesamte Ware mitsamt des zerlegten Kleiderständers in den Wagen. Zu Hause angekommen, brachten sie ihr den gesamten Einkauf nach oben. Erst als die gesamte Kleidung wieder fein säuberlich am aufgebauten Kleiderständer hing, verließen sie ihre Wohnung, mit dem Hinweis, sie gegen 19:30 Uhr wieder abzuholen.
Als sie endlich alleine war, bestaunte sie ungläubig ihre zahlreichen neuen Kleider. Niemals in ihrem Leben hatte sie so noble und teilweise auch extravagante Stücke besessen. Ein Glücksgefühl wollte sich jedoch keines einstellen, zu frisch waren die Geschehnisse der letzten Tage. Noch tags zuvor war sie bis in ihr Innerstes gedemütigt worden. Kurz darauf wurde ihr Peiniger auf brutalste Weise ermordet, ehe sie nur wenig später mit edelster Designerware überhäuft wurde. Nur wenige Stunden danach, war sie elegant gekleidet und geschminkt mit einem undurchsichtigen älteren Herrn zum Abendessen verabredet. Zuviel für eine einfache Seele. Aber sie kämpfte und nahm sich fest vor diesen Abend unbeschadet hinter sich zu bringen.
Ihr Augen-Make-up war passend auf ihr langes dunkelgrünes Cocktailkleid abgestimmt. Ihre neuerworbenen Schuhe vervollständigten ihr perfektes Outfit. Äußerlich war sie wunderschön, innerlich ein fast schon gebrochener Mensch.
Putkin füllte mit seiner Aura nicht nur den Tisch an dem er saß, er nahm auch den ganzen Raum für sich ein. Zweifellos war er eine imposante Erscheinung. Trotz seiner grauen Schläfen sah man ihm seine knapp sechzig Jahre keinesfalls an. Seine gepflegten Hände zeugten davon, niemals handwerklich tätig gewesen zu sein. Als er Tatjana auf sich zukommen sah, stand er sofort auf, reichte ihr die Hand und begrüßte sie überschwänglich. „Sie sehen wundervoll aus. Bitte setzen Sie sich.“ Er rückte ihr den Stuhl zurecht und winkte den Kellner herbei. „Herr Ober, haben Sie einen Aperitif für uns, der mir genauso gut tut, wie die Schönheit dieser Frau?“ Der Ober warf ihr einen kurzen verlegenen Blick zu und empfahl französischen Champagner. Putkin nickte.
Den ganzen Abend über sparte er nicht mit Komplimenten, nicht mit Bewunderung für sein Gegenüber und auch nicht mit Großzügigkeit. „Tatjana, ich bin stolz darauf, was innerhalb kürzester Zeit aus Ihnen geworden ist. Ich glaube, wenn ich Sie mir so ansehe, begegnen wir uns heute auf Augenhöhe. Ich darf Ihnen gratulieren, Sie sind eine von uns geworden.“
Tatjana aber verletzten diese als Lob gedachten Worte mehr, als Putkin jemals ahnte. Wie einfach es doch war, sich eine andere Rolle überzuziehen. Die Vergangenheit mit Geld zugedeckt, abgestreift und in der Umkleide einer Boutique zurückgelassen. Was die Verwandlung von einer einfachen Chemikerin zur geachteten und geschätzten Dame in Putkins Kreisen wohl kostete? Ein paar Kleider, darauf abgestimmte Schuhe, Gürtel und Tasche, ein Tuch und ein von Edelmetall geschmückter Hals. Nicht viel für jemanden dem Geld durch Betrug und Erpressung sprudelt, zu viel aber für den, der mit dem Verlust der Persönlichkeit bezahlt. „Herr Putkin, all die Kleider sind wunderschön, aber ich brauche das alles nicht. Bitte verstehen Sie doch, das bin ich nicht. Sie haben mich neu eingekleidet und doch fühle ich mich beinahe nackt. Mein Gestern, wo ist es, Sie haben es einfach weggekauft. Geben Sie mir meine Vergangenheit und meinen Bruder zurück.“
Putkin der anfangs so viel Charme und Vertrautheit versprühte, legte wie auf einen Knopf gedrückt, seine Zuvorkommenheit ab. „Tatjana, zu gegebener Zeit werden Sie Ihren Bruder sicher wieder bei sich aufnehmen können. Vorerst aber werden wir uns um ihn kümmern. Sie sollten sich voll und ganz Ihren Aufgaben widmen. Spannen Sie noch ein paar Tage aus, essen Sie gut, schlafen Sie gut, aber nächsten Samstag fliegen Sie ab. Ich habe hier ein Flugticket für Sie. Ihr Flug geht über Frankfurt und New York nach New Orleans. Finden Sie diesen Dr. Greene und bringen Sie mir die Formel, koste es was es wolle!“
Drei Tage später saß sie im Flugzeug auf dem Weg nach Westen, - nach New Orleans.
Tatjanas Geschichte hatte mich sehr mitgenommen. Zu gerne hätte ich ihr geholfen, aber was hätte ich tun können? All die Figuren von denen sie erzählte waren für mich unerreichbar weit weg. Noch im sitzen nahm ich ihre Hand, stand mit ihr auf und umarmte sie zwischen all den Leuten. Es fühlte sich gut an, ihr für Momente so nahe zu sein. Momente die gedehnt werden wollten, um ein Gefühl der Verschmelzung zu genießen. Auch Tatjana umklammerte mich ganz fest, beinahe so, als wolle sie sich in mir verstecken. Ihr Herzschlag so nah, als sei er ein Teil von mir gewesen. Ich spürte Feuchte auf meiner Brust, genährt von ihren Tränen. „Bleib heute Nacht bei mir Benjamin, bitte, ich möchte mich an Dir festhalten. Aber schlaf nicht mit mir, ich kann nicht, jedenfalls jetzt noch nicht.“ Es tat beinahe weh, ihr den Wunsch abschlagen zu müssen. Niemals hätte ich Lisa und die Kinder ohne Ankündigung über Nacht alleine gelassen. Aber es schmerzte, von zwei Verantwortungen die ich in mir fühlte, auseinander gerissen zu sein. Tatjana war sehr enttäuscht und traurig, zeigte aber Verständnis. „Geh schon, aber lass mich nicht zu lange warten. Sag dem lieben Gott, er soll dafür sorgen, dass Du wieder ganz schnell bei mir bist.“ Ich war gerührt.
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