»Sie orientieren sich am ursprünglichen Plan der neunziger Jahre, als die Regierung ihren Sitz noch in Bonn hatte. Vielleicht, um ihre Identität als Roter Stern zu beweisen«, mutmaßte Lukas.
»Vielleicht.«
Für einen kurzen Moment saßen sie wortlos nebeneinander.
»Bist du das erste Mal in Bonn?«, ergriff Lukas erneut das Wort. Tanja nickte. »Vielleicht kann ich dir eine kleine Stadtführung geben, wenn wir die Krise bewältigt haben. Du scheinst dieser Stadt sehr skeptisch gegenüber zu stehen.«
Sie schmunzelte.
»Sie gehen ja ganz schön in die Vollen, Herr Professor. Kaum zwei Sätze mit der Unbekannten gewechselt und schon ein privates Treffen aushandeln wollen!«
»Ich bin nur höflich«, erwiderte Lukas.
»Sie wissen, dass ich liiert bin?« Die Enttäuschung stand ihm im Gesicht geschrieben. »Aber über eine persönliche Stadtführung würde ich mich trotzdem freuen«, fügte sie schnell hinzu.
Ein Angestellter des Ministeriums unterbrach die beiden und drückte ihnen die Chipkarten in die Hand, mit denen sie Zugang zu allen Räumen einschließlich der Archive erhielten.
»Dann sollten wir uns mal an die Arbeit machen!«, schlug Tanja vor.
»Ja, das sollten wir«, antwortete Lukas traurig.
»Wir sehen uns später?«, fragte sie zum Abschied.
Lukas las Vorfreude in ihrem Gesicht. Das war keine Frage. Das war eine Bitte. Er lächelte.
»Gerne!«
Martin starrte wortlos auf den Bildschirm und dachte über den vergangenen Abend nach. Ein halbes Jahr war es mittlerweile her, seitdem Monika ausgezogen war. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Sohn Paul. Ein bisschen Abstand würde ihnen guttun, hatte sie gesagt. Die Streitereien hatten am Ende überhandgenommen. Am meisten jedoch hatte Paul darunter gelitten, auch wenn sie versucht hatten, es vor ihm zu verbergen.
Dann kam der gestrige Abend und alles war anders. Sie wollten lediglich ein paar finanzielle Dinge regeln. Steuererklärung, gemeinsame Konten. Plötzlich hatten sie sich geküsst. Kurze Zeit später lagen sie nackt zusammen auf dem Sofa. Es war schön, so vertraut. Neue Hoffnung keimte auf. Dass es noch nicht zu spät war, um für ihre Beziehung zu kämpfen.
Monika war erst spät nachts in ihre Mietwohnung zurückgefahren. Wehmütig hatte Martin ihr nachgeschaut. Sie müsse über das, was passiert war, nachdenken. Dann hatte sie ihn zum Abschied zärtlich auf den Mund geküsst. Ja, es bestand noch Hoffnung.
Das Klingeln des Telefons holte ihn zurück in die graue Alltagsrealität. Er blickte auf die Uhr. Viertel nach acht. Er hatte fast zwanzig Minuten einfach so dagesessen und über seine Frau nachgedacht. Er griff zum Hörer.
»Hallo Martin. Wo warst du? Du hast das Meeting verpasst!«
Es war Bernd, einer seiner Kollegen. Die morgendliche Besprechung fand immer um acht Uhr statt. Hier wurden die Schlagzeilen der Nacht und des Tages kurz zusammengetragen und die Aufgaben an die verschiedenen Reporter verteilt. Martin selbst war seit vier Jahren Redakteur beim General Anzeiger, der wichtigsten regionalen Zeitung in Bonn.
»Ich hatte zu tun. Ich feile noch an der Sache mit dem Drogenkartell«, erklärte Martin. Vorgestern hatte die Kölner Polizei einen Drogenring hochgenommen, der für den Verkauf großer Mengen Heroin, Kokain und Amphetaminen in der Region verantwortlich war. Die Behörden vermuteten, dass auch Crystal Meth zum Sortiment gehörte. Das Labor hatten sie jedoch noch nicht aufgespürt. »War was Besonderes?«
»Nö! Wollte nur hören, ob du noch lebst«, antwortete sein Kollege.
»Mir geht es gut, danke!«, erwiderte Martin.
»Wie lief es gestern mit Monika?«
»Gut.«
»Kein Zoff?«
»Verlief alles harmonisch.«
»Kantine um halb eins?«
»Das passt mir gut.«
»Dann bis später!«
Martin legte auf und konzentrierte sich wieder auf seinen Artikel. Private Probleme durften ihn nicht von seiner Arbeit ablenken. Er war ohnehin schon im Verzug. Trotzdem drifteten seine Gedanken immer wieder zum gestrigen Abend ab.
Er stand auf und holte sich einen Kaffee. Dann ging er kurz auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen. In der Ferne sah er den Posttower, einen der wenigen Wolkenkratzer der Bundesrepublik. Die Morgensonne spiegelte sich in den Fenstern und verlieh dem Gebäude einen majestätischen Glanz. Der Anblick befreite seinen Kopf. Es war schon eine lustige Tatsache, dass Bonn die Stadt mit den zweitmeisten Hochhäusern Deutschlands war. Nach Frankfurt verstand sich. Er rauchte schnell eine Zigarette, bevor er zum Schreibtisch zurückkehrte.
Erneut klingelte das Telefon. Es war sein Schwager, mit dem er trotz der Beziehungsprobleme mit Monika einen sehr engen Kontakt pflegte.
»Geliebter Schwager!«, schoss es aus dem Hörer.
»Hallo Jürgen. Was gibt’s?«
»Ich habe da was für dich!« Der Mann seiner Schwester arbeitete bei der Polizei und versorgte ihn regelmäßig mit Insiderinformationen. Martin bezahlte gut und garantierte absolute Verschwiegenheit, was die Identität seiner Informanten betraf.
»Schieß los!« Martin hatte eigentlich keine Zeit zum Telefonieren und wollte das Gespräch so kurz wie möglich halten.
»Die Zentrale hat zwei Ukrainer zur Großfahndung ausgeschrieben. Die werden deutschlandweit gesucht«, berichtete Jürgen.
»Weißt du, warum?«, hakte Martin nach.
»Das ist es ja gerade. Keine näheren Infos. Die schreiben zwar Drogen- und Bandenkriminalität, aber ich glaub das nicht. Ich hab versucht, ein paar Backgroundinformationen herauszubekommen, aber ich finde nichts. Auch meine Chefs wissen nichts Genaues. Oder sie behaupten es zumindest. Ich denke, das ist etwas Größeres.«
»Das klingt interessant. Wie heißen die beiden denn?«
»Vitali und Alexej Kulowski. Sind aber wahrscheinlich nur Decknamen, unter denen sie eingereist sind. Vor ungefähr einem Monat.«
»Vielen Dank. Ich schau mal, was ich daraus machen kann. Ich muss allerdings vorher noch eine andere Arbeit erledigen.«
»Martin, du enttäuschst mich. Denkst du nicht, ich habe mehr für dich?«, entgegnete Jürgen gekränkt.
»Spann mich nicht auf die Folter. Ich habe zu tun.«
»Das Fax kam nicht vom Polizeipräsidium.«
»Sondern?« Jetzt wurde Martin hellhörig.
»Eine Ministeriumsnummer: Verteidigungsministerium.«
»Verteidigungsministerium?«, fragte Martin skeptisch. Das passte in der Tat nicht zu Banden- und Drogenkriminalität.
»Genau«, sagte Jürgen.
»Gut. Danke.«
»Kein Problem.«
»Hast du mit Monika gesprochen?«, wollte Martin wissen.
»Heute Morgen.«
»Was hat sie gesagt?«
»Dass ihr euch gestern getroffen habt.«
»Und weiter?«
»Ich glaube, dass das zwischen euch noch nicht vorbei ist. Auch wenn es stürmische Zeiten gab, ihr liebt euch noch. Ihr solltet euch noch einmal zusammensetzen. Sucht euch einen Therapeuten. Steht euch nicht gegenseitig im Weg!«, riet ihm sein Schwager.
»Ja, vielleicht hast du Recht.«
»Ruf sie an. Sie wird sich freuen.«
»Danke Jürgen.«
»Kein Problem. Ich muss los. Frohes Schaffen noch!«
Dann legte er auf.
Ihr liebt euch noch!
Diese Wörter schossen ihm immer wieder durch den Kopf.
Es bestand noch Hoffnung!
***
Das Motorrad schoss um die Kurve und hätte beinahe eine alte Frau mit Rollator umgefahren, die fluchte und mit dem rechten Mittelfinger eine für ihr Alter erstaunlich vulgäre Geste an den Tag legte. Der Motorradfahrer schenkte ihr keine Beachtung und fuhr weiter. Er musste allerdings besser aufpassen. Einen Unfall konnte er sich nicht erlauben. Geschweige denn eine Polizeikontrolle. Auf der rechten Seite erblickte er den Dom. Es war ein prachtvolles Gebäude, auf das die Kölner zu Recht stolz waren. Sergej und er wollten die Bombe ursprünglich dort platzieren, aber ihrem Auftraggeber erschien das zu vorhersehbar. Die Behörden würden an solchen Orten zuerst suchen. Womöglich hatte er Recht. Eigentlich war Nikolaj ganz froh, dass der Dom verschont wurde. Er war zwar nicht religiös, aber das Kirchenhaus faszinierte ihn jedes Mal aufs Neue. Was mussten die einfachen Bauern empfunden haben, die im Mittelalter nach Köln pilgerten und dieses riesige Gebäude zum ersten Mal erblickten?
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