»Du siehst aus wie abgestellt und nicht abgeholt«, begrüßte sie ihn.
»Wieso? Du bist doch jetzt da«, erwiderte er mit einem verschmitzten Grinsen. Sie lachte.
»Ich habe keine Paketmarke bekommen.«
»Dann muss ich wohl weiter hier stehen bleiben«, antwortete Lukas und zog eine Schnute.
»Wir können ja einfach so tun, als ob ich sie doch hätte. Dann könnten wir in die Mensa gehen. Ich habe einen mordsmäßigen Hunger.« Auch Lukas Magen machte sich bemerkbar. Seit der Morgenbesprechung hatte er zwar literweise Kaffee zu sich genommen, aber für ein richtiges Essen war keine Zeit gewesen.
»Hast du einen Tisch reserviert?«, fragte er.
»Klar! Letzte Woche schon, als ich in meiner Glaskugel gesehen habe, dass ich dich kennenlernen würde. Habe ein Zweiertisch am Kamin bestellt. Zusammen mit dem romantischen Dinner und dem Aperitif für Frischverliebte. So, wie du es magst.«
»Ich stehe mehr auf rauchige Whiskeys, aber na gut.«
»Die sollen auch eine sehr gute Bar haben. Donnerstags ist immer Jazzabend«, fügte sie hinzu.
»Schade, dass heute Montag ist!«
»Genug gescherzt. Ich habe wirklich Hunger. Wenn du nicht willst, dass ich gleich jemanden erwürge, sollten wir uns zur Cafeteria begeben. Ich habe nur ein kurzes Zeitfenster, in dem mein Gemüt von leicht hungrig und nett zu zickig und aggressiv wechselt«, beendete Tanja die Witzelei. Lukas wollte das lieber nicht riskieren, also schlugen sie den Weg ins Erdgeschoss ein, wo in einem Raum Tische, Stühle und ein kleines Büffet aufgestellt worden waren. Üppig war es nicht. Es gab Gulaschsuppe, Aufschnitt und Brot. In der hinteren Ecke stand eine kleine Salatbar. Jamie Oliver wäre in Tränen ausgebrochen.
»Wie konntest du nur in so einer Kaschemme reservieren?«, fragte Lukas. Tanja grinste.
»War das einzige Restaurant weit und breit.«
Sie füllten sich ihre Teller und nahmen an einem der vielen Tische Platz. Acht andere Personen hatten dieselbe Idee gehabt. Es herrschte eine unangenehme Stille. Lukas versuchte, das Beste aus der angespannten Situation zu machen, und genoss die Zeit, die er mit Tanja verbringen durfte, weit weg von Besprechungen, Bomben und Terroristen. So, als ob sie sich in der Mensa der Universität getroffen hätten. Ungezwungen. Aber so war es leider nicht. Kurze Zeit später platzte Bauer herein und bat Tanja, ihnen bei der Fahndung von den Petrov-Brüdern behilflich zu sein. Sie nickte und verabschiedete sich mit einem gequälten Lächeln von Lukas, der jetzt allein beim Candle-Light Dinner verblieb. Er konnte nicht sagen, ob es der Hunger war, oder ob die Gulaschsuppe wirklich so gut war. Er stand auf und holte sich eine zweite Portion. Nach dem Essen verließ er die Cafeteria und ging nach draußen, um frische Luft zu schnappen.
***
Martin wartete jetzt schon seit dreißig Minuten auf seinen Freund. Montags war er um 20 Uhr immer mit Lukas am alten Zoll verabredet, um bei einem frisch gezapften Kölsch den Feierabend einzuleiten. Der alte Zoll war ein Biergarten am Rhein, in dem die Bonner Bürger im Sommer gerne ihre Freizeit verbrachten. Eine über hundert Jahre alte Platane dominierte den Platz und spendete Schatten. Von hier aus genoss man eine traumhafte Sicht auf den Fluss und das Siebengebirge.
Lukas ließ heute jedoch auf sich warten. Er hatte weder abgesagt, noch ging er an sein Handy. Das war ungewöhnlich für ihn. Martin hatte mehrfach versucht, Lukas Sekretärin zu erreichen, aber die war um diese Uhrzeit nicht mehr im Büro.
Um die Wartezeit sinnvoll zu nutzen, wählte er Monikas Nummer. Es tutete lange, ohne dass etwas passierte. Er wollte schon auflegen, aber dann ertönte ihre Stimme. Sein Herz schlug sofort schneller.
»Hallo Martin!«
»Hallo.«
»Wo bist du?«
»Ich bin am alten Zoll.«
»Stimmt, heute ist Montag.«
»Ja, aber Lukas ist nicht aufgetaucht. Wahrscheinlich ist etwas dazwischengekommen«, erzählte Martin traurig.
»Oh, das ist ja schade.«
»Ich wollte dir sagen, dass das sehr schön war, gestern, mit dir«, führte Martin das Gespräch auf den Abend zurück.
»Fand ich auch«, hörte er sie sagen.
»Meinst du, wir haben noch eine Chance?«, fragte er hoffnungsvoll.
Sie schwieg eine Weile.
»Das hoffe ich.«
Für einige Augenblicke hielten beide inne.
»Wie geht es Paul?«, unterbrach Martin die Stille.
»Gut. Er ist bei einem Freund.«
»Bist du allein?«
»Ja. Ich bin gerade von der Arbeit nach Hause gekommen.«
»Sollen wir uns treffen?« Martin bereute sofort, diese Frage gestellt zu haben.
»Wir sollten es nicht überstürzen. Wir können das vergangene Jahr nicht mit einer einzigen Nacht ungeschehen machen«, erwiderte Monika.
»Tut mir leid. Das war unüberlegt!«, entschuldigte sich Martin.
»Aber wir sollten uns noch einmal treffen und reden«, fügte sie hinzu.
»Das ist eine gute Idee.« Martin machte eine Pause. Er wollte seine Gefühle nicht einfach so unterdrücken, also sprach er es aus. »Du fehlst mir!« Er hörte, wie sie schluchzte.
»Du mir auch«, entgegnete sie. »Und Paul vermisst dich auch.« Auch Martin lief jetzt eine Träne über die Wange.
»Gib ihm einen Kuss von mir. Sag ihm, ich melde mich morgen.«
»In Ordnung.«
»Rufst du mich nach der Arbeit an? Dann können wir was verabreden.«
»Mach ich.«
»Wünsche dir noch einen schönen Abend.«
»Ich dir auch.«
Dann legten sie auf. Martin trank das Bier leer und bezahlte. Als er gerade im Begriff war zu gehen, entdeckte er an einem anderen Tisch zwei Assistenten aus Lukas Fakultät. Vielleicht wussten die ja, wo er abgeblieben war. Er schlenderte zu den beiden Männern herüber und grüßte freundlich. Sie kannten sich von den legendären Sommerpartys, die Lukas jedes Jahr im August in seiner Wohnung ausrichtete. Martin besuchte schon lange keine Diskotheken mehr, aber dieses Ereignis ließ er sich nie entgehen.
»Hallo«, begrüßte er die beiden, die seinen Gruß freundlich erwiderten. »Wisst ihr, ob Lukas heute auf der Arbeit war? Ich bin mit ihm verabredet, aber er ist nicht gekommen.«
»Er war heute nicht in der Uni«, antwortete der mit der Halbglatze. »Die Sekretärin meinte, er müsse heute etwas für ein Ministerium erledigen.«
»Für ein Ministerium?«, fragte Martin verdutzt.
»Ich glaube, fürs Verteidigungsministerium. Aber mehr weiß ich auch nicht.«
»Okay, danke.«
Martin verabschiedete sich und verließ den Biergarten. War das ein Zufall? Oder hatte das irgendetwas mit diesen Ukrainern zu tun, die auf der Fahndungsliste standen? Lukas wurde des Öfteren als Berater von verschiedenen Instituten eingesetzt. Er hatte sogar Aufträge in Russland, den USA und Japan angenommen. Er genoss ein hohes Ansehen in internationalen Kreisen. Martin versuchte noch einmal, Lukas übers Handy zu erreichen, aber es antwortete lediglich die Mailbox.
»Ruf mich zurück! Ist dringend!«, sprach er und legte auf.
Hoffentlich war ihm nichts passiert. Mittlerweile war es halb zehn. Wirklich ungewöhnlich. Vielleicht hatte er ein unerwartetes Date? Da er nichts an der Situation ändern konnte, beschloss er, den restlichen Abend auf der Couch zu verbringen. In der Küche stand eine Flasche Merlot bereit, die er vorgestern bei einem Film geöffnet, aber nicht leer getrunken hatte. Zufrieden mit dieser Aussicht ging er zu seinem Motorrad und fuhr nach Hause.
***
Lukas wälzte sich mehrfach hin und her. Die Matratze war völlig durchgelegen und erinnerte seinen Körper daran, dass der Bandscheibenvorfall vom letzten Herbst noch nicht verheilt war. Da Frank ihm verboten hatte, zu Hause zu übernachten, hatte man ihm ein Zimmer in einer der vielen Kasernen des Verteidigungsministeriums bereitgestellt. Jeder, der in diese Operation involviert war, hatte einen Schlafplatz zur Verfügung gestellt bekommen. Er war jedoch immer noch viel zu aufgewühlt von den Ereignissen des Tages und konnte nicht schlafen.
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