»Vielen Dank, Herr Professor Ludovin«, übernahm Frank jetzt wieder die Regie und leitete zur offiziellen Fragenrunde über. Sofort meldeten sich verschiedene Zuhörer aus dem Auditorium.
»Für wie realistisch halten Sie es, dass es jemand schafft, Atombomben nach Deutschland zu schmuggeln? Und dann gleich sechs Stück?«, fragte ein Mann, der neben Lukas in der letzten Reihe saß.
»Für wie wahrscheinlich hielten Sie vor dem 11. September 2001 einen Anschlag mit zwei Passagierflugzeugen auf das World Trade Center in New York?«, ging Bauer auf die Frage ein. Es folgte eine rhetorische Pause. »Es gibt viele Wege, Waffen ins Land zu schaffen. Im Hamburger Hafen kann lediglich jeder 12000. Container vom Zoll überprüft werden. Über die anderen 11999 können Güter aller Art unbemerkt nach Deutschland gelangen. Das, um nur eine Möglichkeit zu nennen. Wir müssen die Bedrohung als real einstufen.«
»Letztes Jahr wurden in einer russischen Fabrik Bombenkomponenten gestohlen«, ergänzte Frank. »Es handelt sich um die von Professor Ludovin erwähnten Neutronenreflektoren und die Booster, mit denen man die Effizienz von Atombomben erhöhen kann. Die Russen haben den Einbruch dementiert. Wir haben jedoch Hinweise dafür, dass der Rote Stern dafür verantwortlich war.«
»Und die Russen tun einfach so, als ob nichts passiert wäre?«, wunderte sich eine Frau aus dem Auditorium.
»Ein derartiges Sicherheitsleck ist äußerst peinlich und würde dem Ansehen des russischen Präsidenten schaden«, erwiderte Frank.
»Was für eine Sprengkraft erwarten Sie?«, fragte der Verteidigungsminister.
»Wir gehen von einer bis fünf Kilotonnen aus. Dies genügt, um mehrere Häuser bis hin zu wenigen Wohnblöcken vollständig zu zerstören. Die Städte blieben dennoch erst einmal unbewohnbar, bis wir das Ausmaß der Verseuchung erfasst hätten.«
»Die Terroristen werden versuchen, so viele Menschen wie möglich zu töten. Daher werden sie die Stadtzentren wählen. Wie Herr Professor Ludovin erwähnte, dürfen wir das psychologische Trauma nicht unterschätzen. Die Bürger sollen sich in ihrer Stadt nicht mehr sicher fühlen. Wir müssen und werden das verhindern!«, betonte Bauer.
Die Politiker einigten sich darauf, die Bevölkerung erst nach 48 Stunden zu warnen. Während dieser Zeit würde man alle notwendigen Vorkehrungen treffen. Die Terroristen hatten ihnen untersagt, die Städte zu evakuieren, aber es würde der Zeitpunkt kommen, an dem der Regierung keine andere Wahl bleiben würde. Auch die Nachbarstaaten mussten rechtzeitig informiert werden, da der radioaktive Staub durch Wind und Wetter die Landesgrenzen jederzeit überschreiten konnte. Analysten hatten berechnet, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit nach spätestens 48 Stunden Informationen an die Presse durchsickern würden. Sie mussten um jeden Preis verhindern, dass die Bevölkerung von den Medien und nicht durch die Regierung gewarnt wurde. Wenn die Schlagzeile vor einer offiziellen Pressekonferenz veröffentlicht wurde, konnte das zu Massenpaniken und Chaos führen.
Frank verteilte die Aufgaben an die verschiedenen Teams. Es mussten Evakuierungspläne erstellt werden. Ludovin sollte Szenarien mit unterschiedlichen Sprengkräften durchspielen. Eine Taskforce würde sich auf die Suche nach den beiden Terroristen konzentrieren, die am Dortmunder Flughafen gesichtet worden waren. Ein weiteres Team würde Stadtanalysen durchführen, um mögliche Standorte der Bomben zu finden: verlassene Häuser, unübersichtliche Grundstücke, öffentliche Gebäude. Ein fast unmögliches Unterfangen. Selbst ein Kaufhaus konnte ein effizientes Versteck sein. Eine Gruppe organisierte ein geheimes Treffen mit den EU-Partnern. Es sollte in 48 Stunden stattfinden, kurz nach der offiziellen Regierungsmitteilung an die Bevölkerung. Ein Arbeitskreis würde sich um die Presseerklärung kümmern. Oberstes Ziel war es, eine Massenpanik zu verhindern und so wenig Menschen wie möglich zu gefährden.
Frank legte eine erneute Zusammenkunft für 18 Uhr fest, um den Fortschritt der Ermittlungen zu überprüfen. Dann entließ er alle in ihre Kleingruppen. Das Plenum drängte nach draußen, um sich zunächst am Frühstücksbuffet zu stärken, dass die Kellnerinnen vorhin aufgebaut hatten. Lukas wollte die Gunst der Stunde nutzen und ein paar Worte mit der blonden Frau wechseln, wurde aber direkt von mehreren Anzugsträgern überfallen, die ihn mit Fragen zum Roten Stern bombardierten. Eine halbe Stunde später hatten sich alle Arbeitsgruppen zusammengefunden. Lukas stand mit wenigen Wissbegierigen und einem Mettbrötchen im Flur, als Frank ihn abholte.
»Komm! Auch du kannst dich nützlich machen. Jetzt, wo du ständiges Mitglied unserer kleinen Gemeinschaft bist«, sagte er mit einem Schmunzeln. »Entschuldigen Sie uns?« Die anderen Herren nickten.
Er führte Lukas in einen kleinen Besprechungsraum, in dem Bauer die Einsatzgruppe briefte, die mit der Suche nach den Terroristen betraut war. Auf einer Magnetwand im hinteren Teil des Zimmers klebten Fotos von den beiden Ukrainern, die in Düsseldorf gesichtet worden waren. Daneben hing eine Deutschlandkarte, auf der sechs Aufsteckfähnchen die betroffenen Städte markierten. Das Datum, an dem die Bomben gezündet werden sollten, war rot umrandet: 9. Mai 2018. Zu seiner Entzückung gehörte auch die blonde Frau zum Team.
Als Erstes stellte Frank Lukas und Bauer einander vor.
»Das ist Professor Neefe. Ich kenne ihn aus Studienzeiten. Er ist einer der führenden deutschen Experten in Sachen Roter Stern.«
»Ich habe alle Ihre Veröffentlichungen gelesen, Herr Professor. Ich bin ein großer Fan«, begrüßte ihn Bauer und streckte ihm die Hand entgegen.
»Danke!«, erwiderte Lukas mit einem stolzen Unterton.
»Wenn das alles vorbei ist, werde ich Ihnen als Dankeschön für Ihre Hilfe Zugang zum Archiv meiner Abteilung gewähren. Ein Privileg, für das einige Wissenschaftler töten würden«, redete Bauer weiter.
Lukas Herz raste. »Das wäre eine großzügige Geste.«
Dann drehte sich Bauer zu Frank um.
»Ich wusste gar nicht, dass ihm auch die Sicherheitsstufe A erteilt wurde«, flüsterte er ihm zu.
»Ich habe nachträglich beschlossen, dass er uns hier von größerem Nutzen sein kann. Niemand kennt die Gruppe besser als er. Vielleicht abgesehen von Ihnen.« Frank brachte ein gequältes Lächeln hervor.
Bauer nickte. Er schien, verstanden zu haben, dass Frank diese Entscheidung nicht ganz freiwillig getroffen hatte. Er sagte nichts Weiteres dazu und deutete auf die Frau, der Lukas vorhin in den Besprechungsraum gefolgt war.
»Das ist Frau Doktor Rohte. Sie gehört zu unseren kompetentesten Fallanalytikern. Ihr Beruf ist Ihnen aus dem Fernsehen vielleicht besser bekannt als Profiler«, stellte Bauer die hübsche Frau vor. Diese legte ihre Unterlagen beiseite und stand auf.
»Sehr erfreut!«, sagte sie und schüttelte Lukas Hand.
»Frau Rohte wollte gerade ein erstes Täterprofil von den beiden Ukrainern präsentieren«, erklärte Bauer.
»Dann kommen wir ja genau zum richtigen Zeitpunkt«, erwiderte Frank und setzte sich. Lukas tat es ihm nach. Zusammen mit ihnen saßen noch drei weitere Männer im Raum, die Bauer als Agenten vom BND vorstellte. Nachdem alle miteinander vertraut waren, schritt Tanja Rohte zur Tafel mit den Fotos, denen sie einen verächtlichen Blick zuwarf.
»Sergej Petrov und sein Bruder Nikolaj, beide Söhne eines hochrangigen Parteifunktionärs aus der Ukraine. Über Beziehungen gelangten sie zum KGB und stiegen die Karriereleiter schnell auf. Eliteeinheit. So etwas wie 007.
Anfang der Neunziger schlossen sie sich dem Roten Stern an. Als die Sowjets 1991 ihre Macht verloren, wurde die Gruppe als terroristische Vereinigung deklariert. Sie tauchten unter und fanden ihren Platz in der Welt des organisierten Verbrechens. Waffen- und Drogenschmuggel, Prostitution, illegale Casinos. Alles, was man sich nur vorstellen kann. Sergej ist Anfang fünfzig, sein Bruder Ende vierzig. Beide sind äußerst gefährlich und skrupellos. Sie haben mindestens 50 Menschen auf dem Gewissen. Und das allein nach der Zeit als Regierungsmitarbeiter.«
Читать дальше