Lukas hatte von Anschlagsgerüchten durch den Roten Stern gehört, aber ihm war zuvor nicht bekannt gewesen, dass sie einen atomaren Erstschlag gegen die Bundesrepublik planten. Das hätte den dritten Weltkrieg ausgelöst und damit die Auslöschung der Menschheit. Ihn schauderte es bei dem Gedanken.
Bauer übergab das Mikrophon an Frank, der sich bedankte und zum nächsten Vortrag überleitete.
»Vielen Dank, Herr Bauer. Wie gesagt, Sie werden später Gelegenheit haben, Ihre Fragen zu stellen. Als nächstes ...« Frank verstummte und warf Lukas einen bösen Blick zu. »Wir legen jetzt eine kurze Pause ein, damit jeder die überwältigenden Informationen verarbeiten kann. Wir machen in einer Viertelstunde weiter«, unterbrach er die Besprechung abrupt. Lukas Magen krampfte sich unangenehm zusammen angesichts der drohenden Standpauke.
»Ich müsste mal kurz raus«, sagte die blonde Frau neben ihm und erhob sich von ihrem Stuhl.
»Ja klar!« Lukas stand auf und ließ sie vorbei. Im Augenwinkel sah er, wie Frank auf ihn zustürmte.
»Spinnst du?!«, brüllte dieser und packte ihn rüde am Arm. Die um sie herumstehenden Männer und Frauen blickten neugierig herüber. Frank, peinlich berührt von seinem Emotionsausbruch, zog Lukas näher an sich heran und begann zu flüstern.
»Was zum Teufel machst du hier?«
»Ich wollte wissen, warum du mich mitten in der Nacht ins Ministerium bringen lässt«, erklärte Lukas. Dabei hob er die Arme entschuldigend nach oben.
»Ich hatte doch klargestellt, dass du bestimmte Dinge nicht wissen darfst«, schimpfte Frank.
»Wann wolltest du mir denn sagen, dass in Bonn eine Atombombe versteckt ist? Nächste Woche? Wenn es zu spät ist?«
»Es tut mir leid, aber ich kann keine Rücksicht auf persönliche Beziehungen nehmen!«
»Du stellst deinen Beruf über unsere Freundschaft und würdest mich eiskalt mit hochgehen lassen, wenn die Terroristen die Bombe zünden?«
»Mach es nicht komplizierter, als es ist. Ich habe meine Vorschriften!«
»Du bist so ein Korinthenkacker!«
»Jetzt beruhig dich. Wahrscheinlich hätte ich es dir noch gesagt.«
Sie wussten beide, dass das gelogen war.
»Vielleicht gehe ich jetzt einfach nach Hause und ihr holt euch einen anderen Deppen, der über den Roten Stern referiert«, drohte Lukas.
»Das geht jetzt nicht mehr«, konterte Frank.
»Wer sagt das?«
»Ich! Es handelt sich um die höchste Sicherheitsstufe. Niemand, der Genaueres über die terroristische Bedrohung weiß, darf das Gelände verlassen.«
Lukas starrte ihn ungläubig an.
»Willst du damit sagen, dass ihr mich nicht nach Hause lasst?«
»Das hast du dir gerade selber eingebrockt!«, erwiderte Frank mit einem selbstgefälligen Grinsen und ließ Lukas sprachlos zurück. Diese Schlacht hatte er verloren. Warum war er bloß immer so ein Sturkopf?
Eine Glocke läutete. Es war das Signal, dass die Besprechung weitergehen würde. Die blonde Frau drängelte sich wieder an Lukas vorbei und ließ sich auf ihren Sitz fallen. Dabei schwang sie ihre Haare über ihre Schultern. Ihr Auftritt beeindruckte Lukas. Sie wusste ganz genau, wie ihre äußeren Reize auf Männer wirkten, das spürte er. Nach einer kurzen Tagträumerei hastete auch er zurück an seinen Platz, während Frank vorne das Wort ergriff.
»Als nächstes wird Herr Professor Neefe einen Vortrag über den Roten Stern halten. Ich bitte Sie nochmals, Ihre Fragen am Ende der Besprechung zu stellen. Unser Zeitplan ist eng getaktet und vieles wird sich durch die kommenden Vorträge klären.«
Frank nickte Lukas zu, der daraufhin aufstand und mit wackeligen Beinen nach vorne lief. Er konzentrierte sich darauf, so gerade wie möglich zu gehen und stellte sich eine imaginäre Linie auf dem Fußboden vor. Hoffentlich wirkte er nicht mehr betrunken. Der Kaffeefleck auf der Hose war glücklicherweise kaum noch zu sehen. Am Rednerpult angekommen, sortierte er seine Unterlagen und betrachtete das Publikum. Die blonde Frau lächelte ihm zu, was sein Selbstbewusstsein stärkte.
»Guten Morgen«, begrüßte er die Zuhörer, aber die Stimme versagte und erinnerte mehr an einen knarzenden Holzboden als an eine eloquente Männerstimme. Er räusperte sich und startete einen neuen Versuch. »Ich bin Professor Neefe und unterrichte Geschichte an der Bonner Universität. Ich habe mich im Rahmen meiner wissenschaftlichen Arbeit mit der Sowjetunion, insbesondere mit der Terrorgruppe Roter Stern befasst, die zwischen 1985 und 1994 aktiv war.
Ich werde Ihnen als erstes etwas über die Sowjetunion der späten Achtziger erzählen und danach näher auf die Gruppierung eingehen.
In den letzten Jahren des Fortbestehens der UDSSR setzten die Führer der kommunistischen Partei tiefgreifende Reformen in Gang. Sie alle kennen Michail Gorbatschow, der mit Helmut Kohl die Verträge über die deutsche Wiedervereinigung unterzeichnete. Er leitete die sogenannte Perestroika ein, die zunehmende Demokratisierung des Landes und die langsame Abschaffung des Sozialismus. Durch die Entspannungspolitik näherte er sich dem Westen an und beendete den Kalten Krieg.
Die Maßnahmen waren für diese Zeit äußerst drastisch und sollten die damalige Welt radikal verändern. Deshalb stieß er mit seiner Politik nicht nur auf Befürworter. Es gab viele Hardliner und alteingesessene Kommunisten, die die Reformen als bedrohlich ansahen. Sie befürchteten den Untergang des kommunistischen Systems. Auch die Führer einiger Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes standen den Änderungen skeptisch gegenüber, so auch die SED Führung der DDR, um nur ein Beispiel zu nennen.
Leider führten die Reformen nicht zum erhofften Wirtschaftswachstum. Der Sowjetunion ging es in den späten Achtzigern sogar schlechter als vorher. Grund war jedoch nicht der politische Kurswechsel, sondern die enorme Korruption im Land. Dazu kamen Umweltkatastrophen, die die Wirtschaft bremsten. Zum Beispiel das Reaktorunglück in Tschernobyl. Den Gegnern der Perestroika passte die angespannte Lage sehr gut. Sie schoben die Krise auf die eingeleiteten Reformen. Der Widerstand wuchs so sehr an, dass 1991 ein Putschversuch gegen Gorbatschow erfolgte. Unter den Aufständischen fanden sich einige seiner engsten Mitstreiter, darunter der russische Ministerpräsident, der Vizepräsident und der Verteidigungsminister.
Die Mehrheit der Russen begrüßte jedoch die Idee des liberalen Staates. Der Putsch wurde in wenigen Tagen niedergeschlagen. Die Sowjetunion zerfiel noch im selben Jahr. Boris Jelzin wurde der erste Präsident eines demokratischen Russlands. Davor war es bereits zum Zerfall der DDR und zur deutschen Wiedervereinigung gekommen. Die Befürchtungen der Hardliner haben sich im Endeffekt bewahrheitet.
Was viele nicht wissen ist, dass der Putsch durch eine Gruppe aus konservativen Parteimitgliedern und ehemaligen KGB-Funktionären unterstützt wurde. Sie nannten sich »Krasnaja Swesda«, russisch für Roter Stern. Bis zu ihrer Auflösung 1994 führten sie gezielte Aktionen gegen die Demokratisierung des Landes durch. Sie schalteten in den achtziger Jahren liberale Politiker aus und schüchterten die Bevölkerung ein, so wie die SA im Dritten Reich. Die fehlende Unterstützung durch die Menschen des modernen Russlands drängte die Gruppe jedoch in den Untergrund. 1992 verbot der Kreml die Vereinigung und stufte sie als Terrorgruppe ein, 1994 löste sie sich auf.
Die Mitglieder tauchten unter und fanden ihren Platz in der Welt des organisierten Verbrechens. Ein paar erreichten hohe Führungspositionen in der russischen Mafia. Von der Terrorgruppe selbst hat man bis zur heutigen Nacht nichts mehr gehört.
Ich hoffe ihnen einen verständlichen Überblick vermittelt zu haben. Gibt es noch Fragen?«
»Wie vorhin erwähnt, würden wir die Fragen gerne ans Ende der Vorträge stellen. Ich möchte jetzt mit dem nächsten Referenten fortfahren. Vielen Dank Herr Professor Neefe!«, intervenierte Frank.
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