»Natürlich!« Lukas packte seine Unterlagen zusammen und ging zurück an seinen Platz, wo ihn die blonde Frau mit einem Zwinkern in Empfang nahm.
»Wir machen jetzt weiter mit Herrn Professor Ludovin«, stellte Frank den nächsten Redner vor.
Ein kleiner weißhaariger Mann aus der ersten Reihe stand auf und schritt zum Pult. Mit der Halbglatze und dem braunen Cord Sakko erfüllte er das Klischeebild eines zerstreuten Professors. Die Haare zeigten in alle Richtungen, sein Schnurrbart wackelte bei jeder Lippenbewegung. Warum zum Teufel hatte dieser Kerl die Sicherheitsfreigabe und Lukas nicht? Beleidigt verschränkte er seine Arme.
»Auch von mir einen guten Tag! Ich bin Professor Ludovin und ich unterrichte Kernphysik an der Universität in Bonn.
Ich soll Ihnen etwas über Aufbau und Funktion nuklearer Sprengsätze erzählen. Zunächst ein paar Informationen zum Aufbau einer Atombombe. Die gängigen Kernwaffen haben Uran oder Plutonium als instabiles Element zur Basis. Instabile Elemente sind die Grundvoraussetzung für eine nukleare Kettenreaktion. Dafür müssen sie in einer sogenannten überkritischen Masse vorliegen, auf Deutsch in einer zu hohen Menge und Dichte. Die Kettenreaktion lässt Energie in Form einer gewaltigen Explosion frei.
In einer Atombombe liegt unser Element zunächst in einer unkritischen Masse vor. Sonst würde die Bombe ja sofort explodieren. Durch die Zündung wird sie in eine überkritische Masse umgewandelt. Wie passiert das? Das kann dadurch geschehen, dass eine unkritische Masse Uran auf eine andere unkritische Masse Uran geschossen wird. Die Zusammenführung erzeugt eine überkritische Masse und führt zur Explosion. Dieses sogenannte »Gun-Design« wurde bei der Little Boy Bombe verwendet, die die Amerikaner 1945 über Hiroshima abwarfen.
Eine andere Methode nutzt das Implosionsprinzip. Plutonium liegt in unkritischer Masse als Kugelform im Bombeninneren vor. Durch Zündung mehrerer Sprengstoffe an der Hülle der Kugel wird das Plutonium im Inneren zusammengedrückt. Durch den Druck erhöht sich die Dichte bis zum Erreichen einer überkritischen Masse, was zur Auslösung der Kettenreaktion führt. Dieses Prinzip wurde bei der Nagasaki Bombe genutzt, die wenige Tage nach der ersten Atombombe abgeworfen wurde.
Die Sprengkraft einer Bombe wird allgemein in TNT-Äquivalent ausgedrückt. Das ist die Energie, die bei der Sprengung einer entsprechenden Menge TNT frei wird. Man kann das ganz einfach berechnen. TNT hat eine molare Masse von 227,1 g/mol und setzt eine Energie von circa 1047 kj/mol frei. Das entspricht ungefähr 250 kcal/mol...«
»Herr Professor Ludovin, ich glaube, dass wir auf Formeln und Berechnungen verzichten können. Das würde zu sehr ins Detail gehen«, unterbrach ihn Frank.
»Natürlich!« Der Professor versuchte erst gar nicht, die Empörung über die mangelnde Intelligenz seiner Zuhörerschaft zu verbergen. »Wir drücken mit der Äquivalenzzahl aus, wie viel TNT wir verwenden müssen, um dieselbe Wirkung zu erzielen. In Hiroshima wurde eine Bombe mit einer Sprengkraft von 13 Kilotonnen TNT verwendet. Für die gleiche Sprengkraft hätte man also 13000 Tonnen TNT zünden müssen. »Fat Man« in Nagasaki hatte eine Äquivalenzsprengkraft von 20 Kilotonnen.«
Aus dem Plenum hörte Lukas staunendes Gemurmel.
»Die Explosion besteht aus drei Komponenten: Druck, Hitze und Strahlung. Druck und Hitze bewirken die direkte Zerstörung von Gebäuden und Lebewesen. Strahlung führt zu Gesundheitsschäden bis hin zum Tod. Entweder sofort bei hoher Strahlenbelastung oder nach mehreren Tagen bis Jahren bei niedriger Strahlendosis.
Durch den radioaktiven Fallout kommt es zur Verseuchung der Umgebung. Fallout ist nichts anderes als radioaktiver Staub, der durch die Explosion in die Luft gewirbelt wird und in Minuten bis Tagen, manchmal sogar erst nach Monaten wieder auf den Boden fällt. Dabei können große Landstriche für lange Zeit verseucht und unbewohnbar werden. So ähnlich wie bei Tschernobyl, als die radioaktive Wolke nach Westeuropa zog.
Man kann verschiedene Zerstörungszonen definieren. Mit zunehmender Entfernung steigt die Überlebenschance.
Wie weit erstrecken sich die verschiedenen Zerstörungszonen? Das hängt von mehreren Faktoren ab. Erstens von der Sprengkraft. Je stärker, desto größer die Reichweite der Explosion. Zweitens, in welcher Höhe die Bombe gezündet wird. Detonationen in der Höhe haben eine größere Reichweite, aber eine kleinere Maximalwirkung im Zentrum. Die amerikanischen Bomben im Zweiten Weltkrieg wurden in einigen hundert Metern Höhe gezündet, um den Zerstörungsradius in den Städten so groß wie möglich zu halten.
Ein Beispiel: Eine Bombe mit einer Sprengkraft von 10 Kilotonnen kann in 600 Metern Höhe gezündet in einem Radius von über zwei Kilometern alles dem Erdboden gleichmachen. Am Boden gezündet, zerstört dieselbe Bombe vielleicht nur wenige Wohnblöcke. Das ist für uns von Bedeutung, da wir hier von einer Bodendetonation ausgehen müssen. Allerdings wird in diesem Fall mehr radioaktiver Staub hochgewirbelt als bei einer Luftdetonation. Obwohl eine Stadt nicht vollständig zerstört ist, bleibt sie also dennoch für lange Zeit unbewohnbar. Das Gesundheitsrisiko für die Bewohner wäre immens.«
Der Professor schaute in die Runde.
»Fragen?«
»Ja!«, rief die Bundeskanzlerin. »Was für eine Sprengkraft erwarten Sie in unserem Fall?«
»Schwierige Frage. Der limitierende Faktor ist die Größe und damit die Transportfähigkeit der Bombe. Wir benötigen eine Mindestmenge an spaltbarem Material. Die kritische Masse von Uran beträgt in Kugelform zum Beispiel 15 Kilogramm. Allerdings wird bei einer Explosion nur ein Bruchteil des Urans genutzt. Deshalb besaßen die amerikanischen Bomben viel mehr Uran als nötig. Bei der Hiroshima Bombe wurden nur 650 Gramm der 64 Kilogramm Uran gespalten. Der Effektivitätsgrad war mit einem Prozent sehr gering. 50 Gramm Uran können in der Theorie eine Sprengkraft von einer Kilotonne bewirken.
Die Effektivität kann man durch den Aufbau der Bombe und durch Wirkungsverstärker beeinflussen. Je stärker die Minisprengungen am Rand einer Implosionsbombe zum Beispiel, desto mehr wird das spaltbare Material im Inneren der Kugel zusammengedrückt. Dadurch benötigt man weniger instabiles Material.
Der Kern der Bombe kann mit Neutronenreflektoren ummantelt werden, der die Neutronen zurück ins Innere wirft. Man kann die Temperatur erhöhen. Mit Boostermodulen ist sogar eine Verdopplung der Sprengkraft möglich. Es gibt Stoffe mit noch kleineren kritischen Massen, zum Beispiel Californium. In einfachster Bauweise reichen fünf Kilogramm aus.
Studien mutmaßen, dass sogenannte Kofferbomben, ungefähr 23 Kilogramm schwer, eine Zerstörungsenergie von zehn bis 1000 Tonnen TNT Äquivalent erreichen können.«
»Die Bomben, die die Terroristen einsetzen, werden die Städte also nicht komplett zerstören?«, fragte Frank.
»Eher nicht. Die Bomben wären extrem schwer und der Transport umständlich. Außerdem ist so viel Uran von Zivilpersonen nur schwer zu beschaffen. Die eingesetzten Bomben werden maximal ein paar Wohnblöcke vollständig zerstören. Ich glaube sogar, dass die Sprengung nur wenige Gebäude betreffen wird. Die Radioaktivität ist das gravierendere Problem, auch psychologisch gesehen. Jedes Krebsopfer, das mit diesem Anschlag im Zusammenhang steht, würde die Bevölkerung daran erinnern, wie verwundbar sie ist. Ein tiefes Trauma für einen demokratischen Rechtsstaat, wie wir es sind.«
»Wie lange würde eine Stadt dadurch unbewohnbar bleiben?«, wollte der Innenminister wissen.
»Das hängt von der Menge an radioaktivem Staub ab. Tschernobyl ist heute immer noch Sperrbezirk, fast 30 Jahre nach dem Unglück. Fukushima wird in wenigen Jahren wieder bewohnbar sein. Ich denke, eine deutsche Großstadt würde für mehrere Jahrzehnte ausfallen. Auch kleine Bomben können das Grund- und Trinkwasser für die gesamte Stadt verseuchen. Wind und Regen sind unberechenbare Faktoren. Wie sich eine Explosion genau auswirkt, ist unmöglich vorherzusagen. Die Langzeitfolgen mit erhöhten Leukämieraten und Schilddrüsenkrebs ebenso.«
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