Schritte holten ihn aus seinen Gedanken. Eine Frau kam den Flur herbeigeeilt. Sie mochte um die dreißig sein, hatte langes blondes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Ihre Bluse und ihr Jackett bewirkten ein seriöses Auftreten, der schwarze Rock und die hohen Absätze betonten ihre langen, schlanken Beine. In der linken Hand hielt sie eine Aktentasche.
Wie konnten Frauen auf solchen Schuhen nur laufen, fragte sich Lukas.
Sie schritt zielstrebig auf die Tür des Besprechungsraums zu, zögerte dann aber kurz.
»Bin ich hier richtig?«, erkundigte sie sich, nachdem sie das kleine Schild neben der Tür inspiziert hatte.
Lukas hatte mit der Frage nicht gerechnet und gerade zum Trinken angesetzt, verfehlte den Mund allerdings um wenige Millimeter und schüttete sich heißen Kaffee auf die Hose. Es schmerzte höllisch, aber er verzog keine Miene.
»Kommt drauf an, was sie suchen«, antwortete Lukas mit einem charmanten Lächeln. Das Bein brannte wie Feuer!
Die Frau kramte einen Zettel aus ihrer Handtasche heraus.
»Besprechungszimmer 23.4. Ja, ich bin richtig!«
Sie wollte gerade die Klinke betätigen, als sie sich noch einmal zu Lukas herumdrehte, der damit beschäftigt war, seine Hose mit einem Taschentuch trocken zu reiben.
»Wollen Sie nicht rein?«, fragte sie verwundert.
»Ich darf ...«, Lukas stockte. Was sollte er ihr sagen? Er besäße keine Sicherheitsfreigabe? Sie würde denken, er sei ein unwichtiger Beamter, obwohl er ein angesehener Professor war. Seine Eitelkeit ließ eine solche Schmach nur widerwillig zu und zudem wollte er der hübschen Frau imponieren.
»Achso, und ich dachte, die Besprechung hätte noch gar nicht angefangen«, erwiderte er. »Ich bin gerade erst angekommen und wunderte mich schon, wo die anderen sind.« Scheiß auf Sicherheitsfreigaben! Scheiß auf Frank! Wenn er ihn schon mitten in der Nacht herzitierte, hatte er ein Anrecht darauf, zu wissen, was los war.
»Dann schnell!« Die Blondine gab ihm Zeichen, ihr zu folgen, und öffnete die Tür. Lukas schlich hinterher.
Der Raum war abgedunkelt. Am anderen Ende des Zimmers flackerte ein Fernseher. Daneben standen ein Rednerpult und eine Tischreihe, an der einige Minister und die Bundeskanzlerin saßen. Im Plenum befanden sich ungefähr dreißig Zuhörer, die meisten im Anzug, einige in Uniform. Sie starrten gebannt auf den Fernseher und warteten darauf, dass etwas passierte. Niemand beachtete sie.
Die blonde Frau stupste Lukas in die Flanke und deutete auf zwei freie Stühle in der letzten Reihe. Er folgte ihr und nahm Platz. Jetzt entdeckte er Frank, der vorne mit einem Techniker redete. Offensichtlich versuchten sie etwas auf dem Fernseher abzuspielen, was wohl nicht klappte. Er hatte Lukas unerlaubtes Eindringen nicht bemerkt.
»So, jetzt haben wir es«, sagte Frank schließlich. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Wir zeigen ihnen jetzt das Erpresservideo. Ich bitte Sie, dabei ruhig zu bleiben und Ihre Fragen am Ende der Besprechung zu stellen. Nach dem Video werden Ihnen auswärtige Experten alle notwendigen Hintergrundinformationen geben.«
Frank nickte dem jungen Techniker zu, der daraufhin die Fernbedienung betätigte.
Auf dem 52 Zoll Fernseher erschien nach kurzem Schneegestöber ein steriler weißer Raum. Im Hintergrund bedeckten Vorhänge ein Fenster. In der Mitte saß eine vermummte Gestalt auf einem Stuhl. Dahinter sah man ein weißes Banner, auf dem ein roter Stern prangte. Die Stimme der Person war elektronisch verzerrt, was ihr einen bedrohlichen Unterton verlieh.
»Wir sind der Rote Stern. Wir kämpfen für die einzig wahre politische Ordnung in der Welt. In sechs Tagen werden wir Geschichte schreiben. Wir werden die kapitalistischen Werte mit all ihren Mängeln und Gefahren vernichten. Der Westen wird verstehen, dass er seine Profitgier nicht durch die Unterdrückung der Schwachen befriedigen darf. Die Völker dieser Erde werden sich gegen den europäischen Kolonialismus erheben und am Ende eins werden im Kampf gegen ihre Peiniger.
Wir haben in sechs deutschen Städten nukleare Sprengsätze platziert und mit einem Fernzündemechanismus versehen. In Hamburg, München, Köln, Bonn, Stuttgart und Frankfurt. Diese Städte stehen seit jeher für den Kapitalismus in Deutschland. Wir werden nicht zögern, sie dem Erdboden gleich zu machen, wenn Sie unsere Forderungen nicht erfüllen.
Erstens: Stopp jeglicher Waffenlieferung an Kiew.
Zweitens: Anerkennung der Krimannexion und Integration der Ukraine in das russische Staatsgebiet.
Drittens: Offizieller Verzicht auf eine Erweiterung der Europäischen Union und der Nato nach Osten.
Der Westen hat seine Macht in Europa viel zu lange ausgebaut, ohne dass Gegenwehr erfolgte. Das ist jetzt vorbei. Russland wird bald die Vorherrschaft in der Welt übernehmen.
Wenn Sie die Bevölkerung aus den Städten evakuieren, werden wir die Bomben zünden, bevor auch nur ein Bürger die Stadtgrenze verlassen hat. Die Bundeskanzlerin muss sich ab heute Morgen um acht Uhr in Bonn aufhalten. Ihnen bleiben sechs Tage. Wenn Sie unsere Forderungen nicht erfüllen, zeigen wir der Welt das wahre Gesicht der deutschen Regierung: Dass Sie aus Gier und Machtsucht das Leben von Millionen Bürgern in Kauf nimmt.«
Das Video endete abrupt mit Schneegestöber. Lukas starrte entsetzt auf den Fernseher. Frank schritt zurück zum Rednerpult. Der Techniker knipste das Licht an. Lukas versteckte den Kopf hinter seinem Vordermann, um nicht entdeckt zu werden.
Für einen kurzen Augenblick wurde es laut. Die Videonachricht hatte für Aufregung gesorgt. Frank klopfte auf das Mikrofon, damit Ruhe einkehrte. Das Gemurmel wurde durch das Hämmern und Fiepen aus den Wandlautsprechern schnell unterbunden.
»Wie Sie sehen, handelt es sich hier um ein Worst-Case Szenario. Wir reden von schmutzigen Bomben. Nukleare Spreng-sätze. Deshalb haben wir die oberste Geheimhaltungsstufe angesetzt«, erklärte er.
Lukas schaute sich im Raum um. Bestimmt waren hier hochrangige Vertreter vom Bundesnachrichtendienst, der Bundespolizei und vom Militär zusammengekommen. Wozu gehörte wohl seine Begleiterin neben ihm?
»Ich darf als nächstes Herrn Bauer vom Bundesnachrichtendienst nach vorne bitten«, sagte Frank und deutete auf einen Mann in der ersten Reihe. Er war glattrasiert und hatte die Haare penibel nach hinten gegelt. Der graue Anzug ließ jegliche Falten vermissen, seine braunen Lederschuhe glänzten. Er wirkte äußerst gepflegt, was in Lukas Augen der Agententätigkeit geschuldet war. Präzision und Disziplin konnten in so einem Metier über Leben und Tod entscheiden. Der Mann stand auf und schritt entschlossen zum Rednerpult.
»Danke, Herr Schulte. Guten Morgen an die Runde. Bauer ist mein Name«, stellte er sich vor. » Ich leite eine geheime Sonderabteilung des BND, die für die Mission »Stille Suche« verantwortlich ist. Offiziell gibt es mich nicht und nach Verlassen dieses Raumes wird es mich auch weiterhin nicht geben. Ich entschuldige mich für den strengen Ton, aber Geheimhaltung ist für die nationale Sicherheit unerlässlich.
Unsere Einheit ist für die Abwendung von Gefahren aus ehemaligen kommunistischen Ländern zuständig. Anfang der neunziger Jahre plante die Terrorgruppe Roter Stern die Platzierung von nuklearen Sprengsätzen in sechs westdeutschen Städten als Sabotageakt gegen Gorbatschows Entspannungspolitik. Sie wollten das Ganze als einen direkten Angriff durch die Sowjetunion inszenieren. Geplant waren Frankfurt als Sitz der größten deutschen Börse, Bonn als damaliger Regierungssitz, Hamburg, Köln und München als einwohnerreichste Städte und Stuttgart als Hauptquartier der amerikanischen Europatruppen. Da sie die deutsche Wiedervereinigung nicht anerkannten, wollten sie Westberlin verschonen, denn ein derartiges Attentat hätte auch Ostberlin in Mitleidenschaft gezogen. Unsere Aufgabe bestand darin, die Gerüchte um diesen Plan zu überprüfen und im Ernstfall die Bomben zu beseitigen. Um die Bevölkerung nicht zu verunsichern, arbeiteten wir verdeckt. Die Gruppe hat nach unseren Erkenntnissen den Plan zum Glück nie verwirklichen können. Zwei ehemalige Mitglieder sind jedoch vor einem Monat am Düsseldorfer Flughafen durch eine Überwachungskamera identifiziert worden. Der Verdacht liegt nahe, dass sich die Gruppe angesichts der aktuellen Entwicklung in der Ukraine neuformiert hat.«
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