Lukas versuchte mehr über den nächtlichen Ausflug herauszubekommen, aber der Fahrer war nicht sehr auskunftsfreudig, sodass er aufgab und für einen kurzen Moment die Augen schloss.
Nach zehn Minuten erreichten sie das eiserne Tor des Verteidigungsministeriums in Bonn. Ein goldenes Schild mit dem schwarzen Bundesadler markierte den Eingang.
Der Fahrer zeigte dem Wachposten seinen Ausweis und erklärte, wer auf dem Beifahrersitz sitze. Das Tor öffnete sich und sie fuhren auf das weitläufige Gelände, auf dem sich unzählige Wohnblöcke und Bürokomplexe befanden. An einer Ecke stand ein Kiosk, an dem Brötchen und Kaffee verkauft wurden. Lukas hätte alles für einen kurzen Halt gegeben.
Sie hielten vor dem Bürogebäude 438. Frank wartete bereits vor der Tür und rauchte eine Zigarette. Währenddessen trat er hektisch von einem Fuß auf den anderen. Seine Haare waren zerzaust, Schweißflecken zeichneten sich unter den Achseln ab.
»Ihr seid spät dran!«, raunte er.
»Sei froh, dass ich lebend hier angekommen bin. Dein Fahrer dachte wohl, er bestreite ein Formel 1 Rennen«, erwiderte Lukas genervt.
Die beiden Männer schauten sich kurz an. Dann umarmten sie sich.
»Wie lange ist es her?«
»Zwei Jahre bestimmt!«
»Du stinkst nach Alkohol!«
»Ich hatte gestern nicht damit gerechnet, dass du mich heute Nacht ins Verteidigungsministerium zitierst!«
»Ich habe denen einen Profi versprochen und nicht einen Professor in der Midlife-Crisis, der an einem Montagmorgen nach Kneipe riecht!«, fluchte Frank.
»Soll ich wieder gehen?«, entgegnete Lukas beleidigt.
»Auf keinen Fall!«
»Ein Freund hatte Geburtstag.«
»Macht die Sache nicht besser!«
»Willst du mir jetzt sagen, was los ist?«
»Nicht hier.« Frank drückte die Zigarette aus. »Wir gehen in mein Büro!«
Hastig führte er ihn in den zweiten Stock. Sein Büro glich mehr einer Müllhalde als einem Arbeitszimmer. Der Schreibtisch lag unter einem Papierberg begraben. Auf den Stühlen türmten sich die Akten bis zur Decke und vom eigentlichen Fußboden war nichts mehr zu sehen. Die Unordnung passte genauso wenig zu Frank wie das unrasierte Gesicht. Er hatte sonst immer Wert auf ein gepflegtes Aussehen gelegt.
»Jetzt schieß los!«, forderte Lukas ihn hektisch auf, ihm endlich zu erzählen, warum er hier war.
»Ich darf dir nicht viel sagen. Die Sache ist streng geheim. Ich brauche einen Vortrag über den Roten Stern«, erklärte Frank-
»Warum?«
»Wirst du später erfahren!«
»Du willst mir den Grund nicht nennen?«, wunderte sich Lukas.
»Du hast eine Stunde Zeit!«
»Ich mach gar nichts, bevor du mich nicht aufgeklärt hast!«
Mit einer ausschweifenden Armbewegung räumte Frank seinen Stuhl frei. Die Akten flogen durch das Zimmer. Lukas zuckte zusammen.
»Du machst mich fertig!«
»Du lässt mich mitten in der Nacht hier antanzen. Meinst du nicht, du bist mir eine Erklärung schuldig?«
»Die Bundeskanzlerin sitzt gleich in der Besprechung.«
»Das war also kein Scherz!«
»Sehe ich aus, als ob ich Witze mache?«
»Du siehst eher so aus, als ob dir ein wenig Schlaf und eine Dusche guttun würden!«
Frank schaute ihn böse an.
»Eine Stunde. Enttäusch mich nicht!«
»Ich bin immer noch genauso schlau wie vorher!«
Frank verdrehte die Augen.
»Uns droht ein Terroranschlag.«
»Islamisten?«
»Nein. Eine Gruppe namens Roter Stern!«, erklärte Frank.
Lukas schaute ihn verwundert an.
»Die haben sich doch vor 20 Jahren aufgelöst!«
»Scheinbar haben sie sich wieder zusammengerottet.«
»Was fordern sie?«
»Sie kämpfen für eine russische Vormachtstellung in Europa und wollen, dass wir uns aus dem Ukrainekonflikt raushalten.«
»Anlässlich der Friedenskonferenz, die diese Woche in Zürich stattfinden wird?«, ergänzte Lukas.
Frank nickte.
»Was haben die vor?«
»Sie drohen mit Bombenattentaten in deutschen Innenstädten. Wir haben eine Sonderkommission gegründet, um diese Leute auszuschalten, bevor sie größeren Schaden anrichten können.«
»Ich soll also etwas zum geschichtlichen Hintergrund erzählen?«
»Du bist der führende Experte für diese Terrorgruppe«, erklärte Frank. »Da liegt das auf der Hand.«
Lukas nickte. Er hatte in seiner Laufbahn sehr viel über den Roten Stern geforscht und galt nicht ohne Grund als einer der renommiertesten Experten auf diesem Gebiet.
»Die Sache unterliegt strengster Geheimhaltung. Du darfst mit niemandem außerhalb dieser Mauern darüber reden. Du wirst nur für deinen Vortrag zur Konferenz zugelassen. Danach wirst du von meinem Angestellten nach Hause gefahren. Er wird am Ausgang auf dich warten«, belehrte Frank seinen ehemaligen Studienfreund.
Lukas nickte.
»Welche Städte?«
»Mach dich an die Arbeit! Dir bleibt eine Stunde«, antwortete Frank, ohne auf die Frage einzugehen. Er stand auf und ging zur Tür. Kurz vor Verlassen des Raumes hielt er inne.
»Bonn ist auch betroffen!«, sagte er schließlich.
Ohne sich umzudrehen, verließ er das Zimmer.
Lukas verschlug es die Sprache. Regungslos saß er auf dem Stuhl und versuchte, Franks Worte zu verarbeiten. Nach einigen Minuten klopfte es an der Tür. Die Sekretärin brachte Kaffee, aber Lukas war jegliches Bedürfnis danach vergangen. In der Ferne hörte er das dumpfe Geräusch eines Hubschraubers.
Lukas konnte kaum stillsitzen, so aufgeregt war er. Alle paar Minuten stand er auf und spähte zur Tür des Konferenzraumes, um sich dann wieder hinzusetzen. Dies wiederholte sich jetzt schon zum dritten Mal. Zwischendurch schaute er immer wieder auf seine Uhr. Die Besprechung hatte vor einer halben Stunde begonnen und noch immer kein Zeichen von Frank. Lukas hatte nur eine niedrige Sicherheitsfreigabe erhalten, so hatte es ihm sein Freund erklärt. Das hieß, dass Lukas nicht an der Hauptkonferenz teilnehmen, sondern lediglich für die Dauer seines Vortrags hineindurfte. Danach musste er das Ministerium verlassen und auf Abruf bleiben. Das ging ihm ordentlich gegen den Strich, denn er war von Natur aus sehr neugierig.
Er beobachtete die beiden Kellnerinnen, die mehrere Kaffeekannen und ein Buffet mit belegten Brötchen auf einem Tisch aufstellten. Zumindest würde er nicht verhungern, dachte er. Die beiden Frauen hatten seine Blicke bemerkt und grinsten dem Unbekannten zu.
»Darf man sich schon bedienen?«, fragte Lukas höflich. Eine von den beiden nickte, woraufhin er sich eine Tasse mit Kaffee einfüllte. Der Duft der koffeinhaltigen Flüssigkeit zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht. Dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl und wartete.
Wenn es stimmte, was Frank ihm erzählt hatte, dann stand das Leben vieler Menschen auf dem Spiel. Er hatte den Zusammenhang mit der Ukraine erwähnt, wo seit einigen Jahren Bürgerkrieg herrschte. Separatisten hatten den Osten des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Die Russen unterstützten sie mit Waffenlieferungen, während Europa und die USA auf Seiten der ukrainischen Regierung standen. Das Verhältnis zwischen Ost und West war so schlecht wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Auf wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland folgten Visasperren und der Stopp von russischen Gaslieferungen an Europa. 2014 hatten sich die Russen die Krim einverleibt, eine Halbinsel am Schwarzen Meer, die vorher zur Ukraine gehört hatte. Weder die USA noch Europa wollten einen Krieg riskieren und schauten tatenlos zu, obwohl diese Aktion eindeutig völkerrechtswidrig war. In der kommenden Woche würden die Konfliktparteien auf einer Friedenskonferenz in Zürich über eine Waffenruhe verhandeln. Der Ausgang des Treffens war ungewiss und eine Verschlechterung des politischen Klimas wahrscheinlich. Die populistischen Parteien in Europa nutzten die angeheizte Stimmung für den eigenen Wahlkampf. Schwierige Zeiten standen bevor, in denen Pazifismus keine Selbstverständlichkeit mehr war. Wer hätte das vor ein paar Jahren gedacht. Lukas hoffte, dass die europäische Gemeinschaft diese schwere Krise gemeinsam lösen würde.
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