Als er die Treppe vor dem Museum erreicht hatte, stockte ihm der Atem. Sein Motorrad lag auf dem Boden. Daneben eine junge Frau mit zwei Kleinkindern. Sie hatte beim Parken mit ihrem Auto die Maschine touchiert und umgeworfen. Das allein wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn sie nicht die Polizei informiert hätte und zwei Beamte den Unfall nun aufnahmen.
Die Frau hatte ihn schon entdeckt. Er konnte jetzt nicht einfach weglaufen. Wenn ihn die Polizisten aber erkannten, konnte es brenzlig werden. Er wollte seine Waffe nicht benutzen. Jegliche Aufmerksamkeit war in so einer heißen Phase der Operation gefährlich.
»Ist das Ihr Motorrad?«, fragte die weibliche Polizistin.
Nikolaj zögerte.
»Äh, ja?«
»Es tut mir schrecklich leid«, schluchzte die Unfallverursacherin. »Die Kinder waren am schreien, ich habe nicht aufgepasst. Entschuldigung! Das war keine Absicht.«
»Ist ja gut«, beruhigte sie die Polizistin. »Sie haben richtig gehandelt und uns direkt angerufen.«
Sie hätte lieber besser aufpassen sollen! Von wegen alles richtig gemacht! Jetzt hatte sie sich unwissend in eine lebensgefährliche Lage gebracht. Nikolaj näherte sich den Beamten. Vorsichtshalber legte er die Hand auf seine Waffe, die griffbereit hinten in der Hose steckte, und entsicherte sie.
»Sorry, aber ich bin wirklich in Eile. Ich regle das mit der netten Dame. Ich verzichte auf eine Anzeige.«
»Der Unfall ist bereits aufgenommen. Wir bräuchten nur noch Ihren Ausweis, Führerschein und die Fahrzeugpapiere.«
Schlimmer konnte es kaum kommen. Nikolaj kramte in seiner Hosentasche und reichte ihr die Dokumente.
»Andrej Polotz. Aus Russland?«, erkundigten sich die Beamten.
»Ja«, bestätigte Nikolaj die falsche Identität.
»Wir checken das mit unserer Zentrale gegen. Einen Augenblick.«
»Es tut mir wirklich leid«, rief die junge Mutter. Schon wieder eine weinende Frau. Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm.
»Es ist doch nichts passiert«, erwiderte er und hob die Maschine hoch. »Nur ein Blechschaden, sehen Sie? Das regeln unsere Versicherungen und dann ist alles gut.« Ein Scheiß war alles gut! Das Motorrad war völlig demoliert. Unter normalen Umständen hätte er den Unfallgegner zur Schnecke gemacht. Schon allein dafür hätte er gerne die Pistole benutzt. Aber er zwang sich zur Contenance.
Warum brauchten die Polizisten so lange? Hatten sie ihn durchschaut? Musste er fliehen? Mit der rechten Hand umgriff er erneut die Waffe, die er jetzt unter der Jacke versteckt hielt. Sicherheitshalber drehte er die Maschine in Richtung Straße und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.
Schließlich kam die Polizistin zurück und überreichte ihm die Papiere.
»Alles in Ordnung, Herr Polotz. Der Unfall ist aufgenommen. Hier die Kopien des Unfallberichts.«
»Danke.«
»Und Sie passen das nächste Mal ein bisschen besser auf, Frau Schlüter!«, ermahnte der männliche Beamte die Unfallverursacherin.
»Ja, auf jeden Fall!«, versprach die Frau mit heftigem Nicken.
»Gut, dann wäre ja alles geklärt«, sagte Nikolaj. »Ich muss jetzt wirklich los.«
Er zog seinen Rucksack über und setzte sich auf die Maschine. Dann drehte er den Zündschlüssel um. Das Brummen des Motors ließ ihn aufatmen. Immerhin kein Motorschaden.
»Tschüss. Einen schönen Tag noch!«, sagte er und schloss das schwarz getönte Visier seines Helms. Er spielte noch zweimal mit dem Gashebel und fuhr schließlich mit lautem Getöse fort. Glück gehabt, dachte er und trat erleichtert den Heimweg an.
***
»Sag mal, fandst du das nicht seltsam?«, fragte die junge Beamtin ihren Partner, als sie sich in den Wagen setzten.
»Was denn?«
»Der Typ ist einfach weggefahren, ohne die Personalien der Unfallgegnerin zu notieren. Oder die Versicherungsdetails. Merkwürdig, oder?«
»Steht doch alles im Unfallbericht, den du ihm gegeben hast. In Köln laufen viele Verrückte herum. Damit musst du dich abfinden. Ist nicht alles so geordnet wie bei euch in Münster.« Der Polizist grinste und stellte den Radiosender um. »Im Radio läuft immer dieselbe Scheiße. Ich könnte mich jedes Mal darüber aufregen«, fluchte er. Die junge Kollegin ließ nicht locker.
»Etwas stört mich dennoch. Der war nicht einfach nur schräg. Der hatte es eilig. Und er war nicht erfreut, uns zu sehen.«
»Ich wäre auch nicht erfreut gewesen an seiner Stelle. Hast du die Maschine gesehen?«
»Das ist auch noch so eine Sache. Das Motorrad hatte einen riesigen Schaden. Aber er hat das als Lappalie abgetan.«
»Barbara, geh mir nicht auf die Nerven. Lass mich dir eines raten: Wenn du ein angenehmes Leben als Streifenpolizistin in Köln verbringen möchtest, dann lass manche Dinge einfach jut sein.«
Plötzlich dämmerte ihr etwas. Sie kramte nach den Fotos, die sie vor einer Stunde von der Zentrale bekommen hatten. Zwei Männer wurden gesucht. Zwei Ukrainer, keine Russen. Und es waren andere Namen. Außerdem sahen sie ganz anders aus als der Mann mit dem Motorrad. Und es wäre schon ein krasser Zufall gewesen, wenn ausgerechnet einer dieser Männer ihnen bei einem Verkehrsunfall in die Arme laufen würde. Vermutlich hatte ihr Kollege Recht. Manchmal musste man Dinge gut sein lassen.
»Komm, wir holen uns jetzt ein belegtes Brötchen und einen Kaffee. Es ist elf Uhr und ich habe Hunger«, sagte der Beamte auf dem Beifahrersitz.
Barbara grinste. Sie legte das Foto von Nikolaj wieder auf den Rücksitz und machte den Motor an. Sie schaute noch ein letztes Mal darauf, schüttelte aber den Kopf und fuhr los.
***
Am Nachmittag saß das Team wieder beisammen, um die Fortschritte der Ermittlungen zusammenzutragen. Tanja begann damit, die Täterprofile vorzustellen, die sie am Nachmittag erstellt hatte. Sergej und Nikolaj hatten eine beachtliche Karriere in der russischen Mafia hingelegt. Sie waren professionelle Auftragskiller geworden, ohne dass sie einer bestimmten Familie verpflichtet waren. Mindestens 30 Morde wurden ihnen zugeschrieben. Wahrscheinlich waren es viel mehr, denn sie zeichneten sich dadurch aus, ihre Spuren gut zu verwischen. Der russische Geheimdienst hatte mehrfach versucht, sie über die Geldwege zu überführen. Es wurden zwar oft Geldausgänge bei den Auftraggebern nachgewiesen, aber dann löste sich das Geld förmlich in Luft auf, sodass man die Transaktionen nie bis zu den beiden Brüdern nachverfolgen konnte. Tanja schätzte, dass sie mittlerweile genug Geld verdient hatten, um sich problemlos zur Ruhe zu setzen. Wahrscheinlich trieb sie der Kick an, den sie während ihrer Arbeit verspürten. Möglicherweise konnte dies ihr letzter großer Coup werden, bevor sie sich aus dem aktiven Geschäft zurückzogen. Die Russen verdächtigten sie, auch vor der Liquidierung ehemaliger Mitglieder des Roten Sterns keinen Halt gemacht zu haben, solange die Bezahlung stimmte. Das bestätigte Tanjas ursprünglichen Verdacht, dass sie käuflich waren und man sie mit einem angemessenen Angebot vielleicht umdrehen konnte.
Lukas hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Schlafmangel, der Alkohol des Vorabends sowie der Tag im Archiv zehrten an seinen Kräften. Genau wie Tanja hatte auch er mehrere Stunden am Computer verbracht und Nachforschungen über den Roten Stern angestellt. Die Informationen, die er gesammelt hatte, brachten die Ermittlungen jedoch nicht sonderlich nach vorne. Er hätte am liebsten einfach geschlafen, aber das war natürlich keine Option. Also zwang er sich wach zu bleiben. Immer wieder erwischte er sich dabei, wie er kurzzeitig einnickte. Er wechselte mehrfach die Sitzposition, atmete tief ein und aus, rieb sich die Augen. Aber all das machte ihn nicht wacher. Er sehnte sich nach dem Ende der Besprechung.
»Sie werden jetzt keine unnötigen Risiken eingehen und sich bedeckt halten. In dieser Phase der Operation werden sie ihr Versteck nur dann verlassen, wenn dies unbedingt erforderlich ist«, beendete Tanja ihren Bericht. Bauer bedankte sich bei ihr und übernahm das Wort.
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