»Wir haben die ersten Stunden der Ukrainer auf deutschem Boden rekonstruiert«, erzählte er. »Auf den Überwachungskameras des Flughafens erkennt man die beiden, wie sie zwei große Rollkoffer hinter sich herziehen. Da sie die Gepäckkontrollen ungehindert passiert haben, nehmen wir an, dass sie die Bomben auf andere Wege ins Land geschmuggelt haben. Danach sieht man, wie sie sich zum Parkplatz P2 begeben und in einen schwarzen Dreier BMW einsteigen.«
Bauer klickte auf die nächste Folie der Powerpoint-Präsentation.
»Das Auto stand bereits im Parkhaus. Wir sind dabei herauszufinden, wer es dort abgestellt hat. Das Kennzeichen führt zu einer Mietwagengesellschaft. Das Auto wurde mit einer gehackten Kreditkarte gebucht. Wir haben mit der Firma telefoniert. Der Wagen ist seitdem spurlos verschwunden. Sie haben bereits eine Anzeige aufgegeben, aber die Polizei hat das Fahrzeug bisher nicht gefunden. Nach dem Verlassen des Flughafengeländes wurde das Auto noch von zwei Verkehrsüberwachungskameras aufgenommen. Danach nichts mehr. Wie vom Erdboden verschluckt.«
»Also sind die Ukrainer untergetaucht«, schlussfolgerte Frank.
»Wir wissen noch nicht einmal, in welcher Stadt sie sich aufhalten«, sagte Bauer weiter. Das klang ziemlich entmutigend, wie Lukas fand. »Die Fahndung hat bisher noch nichts ergeben. Die Fotos sind allerdings auch erst heute Morgen an die Polizeistellen gesendet worden.«
»Wie kommen wir mit den taktischen Stadtanalysen voran?«, wollte Frank wissen.
Zwei Männer aus den vorderen Reihen erhoben sich und nahmen den Laserpointer von Bauer entgegen. Der kleinere der Beiden steckte einen USB-Stick in den Laptop und startete die Präsentation.
»Wir haben in den sechs Städten Ziele von besonderer politischer oder symbolischer Bedeutung herausgefiltert«, erklärten sie und klickten sich durch die Powerpoint-Folien, die verschiedene Kartenausschnitte der betroffenen Städte zeigten. Lukas erkannte die berühmten Wahrzeichen wie den Kölner Dom, das Stuttgarter Schloss, das Hamburger und Bonner Rathaus. Es folgten Brücken, Fernsehtürme, Kirchen. Eine Vielzahl an Gebäuden, die eine nähere Inspektion verdienten. »Diese Orte sollten wir uns auf jeden Fall genauer ansehen. Aber die Terroristen könnten die Bomben überall deponiert haben.«
Es folgten weitere Folien. Lukas Kopf fiel mit Wucht gegen seine Brust. Erschrocken blickte er sich um. Er war kurz eingeschlafen, aber scheinbar war es niemandem aufgefallen. Er konzentrierte sich wieder auf die beiden Männer, die den Vortrag hielten. Die aktuellen Folien sortierten die Stadtbezirke nach möglichen Opferzahlen.
»Wenn man diese verschiedenen Faktoren zusammen betrachtet, ergeben sich bestimmte rote Zonen, in denen unsere Terroristen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Bomben platziert haben werden«, hörte er die Männer sagen. Lukas schaute auf die rot umrandeten Bezirke. Es waren große Bereiche. Auch dort gab es tausende Versteckmöglichkeiten. Wie sollten sie auf gut Glück dort die Bomben aufspüren?
»Gut«, übernahm Bauer wieder die Regie. »Wir bilden Einsatzteams, die die Bereiche absuchen. Seit heute Nachmittag untersuchen bereits Spezialkräfte die Städte auf radioaktive Strahlung. Herr Neefe, haben Sie etwas für uns?«
Lukas hörte nur seinen Namen und öffnete die Augen. Dreißig Augenpaare starrten ihn an. Im Raum herrschte eine erwartungsvolle Stille. Vorne stand Bauer, der ihn ebenfalls fragend anschaute. Mist! Er war schon wieder weggenickt. Er versuchte, sich an Bauers Frage zu erinnern. Vielleicht war sie im Unterbewusstsein ja zu ihm gedrungen. Nichts. Gähnende Leere. Wie lange hatte er gedöst? An die Folie, die er auf der Leinwand sah, konnte er sich noch erinnern. Aber die beiden Männer, die die Stadtanalyse vorgestellt hatten, saßen wieder auf ihren Plätzen. So langsam musste er etwas sagen, sonst würde es peinlich. Es gab eigentlich nur einen Grund, warum die Aufmerksamkeit plötzlich auf ihn gerichtet war. Sie wollten seine Ergebnisse hören. Er riskierte es und stand auf.
Auf dem Weg nach vorne gewann er schnell an Sicherheit. Er steckte den USB-Stick in den Laptop und startete seinen kurzen Vortrag.
»Vielen Dank!«, begann er. »Ich habe leider keine Neuigkeiten herausgefunden, die uns den Bomben näherbringen würden. Frau Rohte hat bereits die wichtigsten Dinge zusammengefasst. Bisher wissen wir ja nicht, ob nicht auch andere Mitglieder des Roten Sterns involviert sind.«
Er blickte zu Bauer und Frank herüber. Sie wirkten nicht überrascht oder verwundert. Also hatte Lukas richtig gelegen. Er sollte erzählen, was er in Erfahrung gebracht hatte. Seine Stimme nahm jetzt einen noch selbstbewussteren Ton an.
»Die Terrorgruppe hat über 20 Jahre nichts von sich hören lassen«, sagte Lukas weiter. »Ich frage mich, warum sie plötzlich wieder aus dem Nichts auftaucht. Ich finde das seltsam und meiner Meinung nach passt das nicht zusammen. Da stecken andere Beweggründe dahinter, die mir aber noch nicht klar sind.«
Er klickte auf die nächste Folie. In roter Farbe leuchtete das Datum des Ultimatums. Der 9. Mai.
»Dann dieses Datum«, erklärte Lukas. »Wissen Sie, wofür dieses Datum steht?«
Er legte eine rhetorische Pause ein und blickte in die Runde. Die Anwesenden schauten ihn erwartungsvoll an.
»Es ist der Tag, an dem die Deutschen vor Russland im zweiten Weltkrieg kapituliert haben. Ein symbolträchtiges Datum. Der zweite Weltkrieg hat immer noch bleibende Spuren in der russischen Seele hinterlassen. Auch heute nach mehr als 60 Jahren. Wer sich so einen Tag als Ultimatum aussucht, der möchte nicht, dass Deutschland die Forderungen erfüllt. Der Rote Stern bezweckt genau das Gegenteil. Die Terroristen werden die Bomben zünden. Wie ein Feuerwerk zu Ehren derjenigen, die damals ihr Leben für die Sowjetunion gelassen haben. Als Racheakt. Mit deutschen Opfern. Hier sind Strippenzieher im Hintergrund tätig, die Deutschland immer noch als Feindbild sehen und Russland zu alter Stärke zurückführen möchten. Sie identifizieren sich also mit den Zielen der ursprünglichen Terrorgruppe. Damit drücken sie aus, dass sie es ernst meinen.«
Lukas war jetzt voll in seinem Element. Jegliche Müdigkeit war mit einem Mal verflogen. Er liebte es, vor Menschen zu sprechen. Zu seinem Bedauern musste er jedoch feststellen, dass er bereits am Ende seines Vortrags angelangt war.
»Diese Einschätzung ist zwar nicht sehr beruhigend«, übernahm Bauer wieder das Wort, »aber es ändert nichts an unserer Taktik, denn die Bundesregierung wird sich so oder so nicht auf die Forderungen der Terroristen einlassen. Der Staat würde sich in diesem Fall erpressbar machen. Wir alle wissen, dass das keine Option ist. Daher gehört es zu unserer Aufgabe, die Bomben zu finden, bevor sie gezündet werden. Danke, Herr Neefe.«
Lukas nickte und begab sich zurück an seinen Platz.
»Gibt es noch Anregungen?«, fragte Bauer in die Runde.
Tanja hob den Arm.
»Um die Ukrainer zu finden, müssten wir sie aus ihrem Versteck locken.«
»Sie meinen, ihnen eine Falle stellen?«, ergänzte Frank.
»Genau. Das sind Profis. Die werden keine Fehler machen. Man muss sie also zu Fehlern zwingen«, erklärte sie.
»Das ist ein guter Ansatz«, lobte Bauer den Einwurf. »Hat jemand Vorschläge, wie man dies erreichen könnte?«
Das Plenum blieb still. Lukas strengte sein Gehirn an, aber auch ihm fiel nichts ein. Bauer merkte, dass er heute keine Fortschritte mehr erwarten durfte. Also beendete er die Besprechung.
»Jeder macht sich bitte Gedanken darüber, wie man die Petrov-Brüder aus ihrer Deckung locken könnte. Nächstes Meeting morgen früh um fünf für alle.«
Lukas packte seine Sachen und verließ das stickige Zimmer. Auch der Rest des Auditoriums schien erleichtert darüber, dass das Treffen vorbei war. Im Flur wartete er auf Tanja, die ihn wenige Augenblicke später erreichte. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie Lukas sah. Mein Gott, sah diese Frau gut aus! Lukas konnte die Augen nicht von ihr lassen. Es kam ihm vor, als würden sie sich schon seit Jahren kennen, dabei hatten sie sich erst vor wenigen Stunden zum ersten Mal gesehen.
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