Sie schaute auf die Uhr. So ein Murks. Der letzte Bus in die Stadt fuhr in zehn Minuten. Wenn sie sich beeilte, erwischte sie ihn womöglich noch. Mit einem Satz sprang sie von der Mauer, und rannte wie beim Endspurt eines Sechzigmeterlaufes, auf ihr Zimmer. Sie schmetterte das Tagebuch auf ihr Bett, wechselte ihren Freizeitpullover gegen eine rot karierte Bluse, schnappte sich eine Jacke und ihren Umhängebeutel.
Flink kritzelte sie eine Nachricht für Hanna auf einen aufgerissenen Briefumschlag. Dabei fiel ihr ein, dass diese am heutigen Nachmittag zu Besuch bei ihrer Mutter war. Sie schalt sich eine Idiotin, ließ den Stift fallen und schon flitzte sie die Treppen nach unten, die Abkürzung nehmend quer durch den Garten, zur Bushaltestelle. Trotz ihres meisterschaftlichen Sprints sah sie beim Vorbeilaufen, hinter dem Bürofenster, Falk Wegener stehen. Mist, sie hatte nicht auf den Weg geachtet. Hoffentlich war sie auf keine seiner geliebten Beete getreten. Grüßend hob sie etwas scheu eine Hand, aber er reagierte nicht. Schaute durch sie hindurch, als wenn sie unsichtbar wäre. Umso besser, so hielten sich Connys Gewissensbisse in Grenzen. Außerdem blieb ihr keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Sie musste unbedingt den letzten Omnibus schaffen.
Als sie an der Haltestelle ankam, fehlte ihr die Puste und durch den Wettlauf mit sich selbst sah ihr Zopf zerzaust aus, einzelne Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht. Leider hatte sich die Anstrengung nicht gelohnt, denn sie sah nur noch die durch Staub verdeckten Rücklichter vom Bus. Unwirsch pfefferte sie mit voller Wucht ihren Beutel auf die Straße. Dabei holte sie wutschnaubend Luft und fluchte mürrisch vor sich hin. Unverrichteter Dinge wieder zurück, kam für Conny nicht in Frage. Sie wog kurz ab, sich ein Fahrrad aus dem Kinderheim zu holen. Aber es war nicht ausgeschlossen, dass vielleicht andere Mitbewohner damit unterwegs waren. Notfalls gab es noch ein Exemplar im Keller. Allerdings war nicht sicher, ob es überhaupt fahrtüchtig war. Da kamen definitiv zu viele Risikofaktoren zusammen, die sie erneut Zeit kosteten. Also blieb ihr nichts weiter übrig, wie per Anhalter in die Stadt zu gelangen. Ganz recht war ihr das nicht, aber sie benötigte nun mal die Fotos für ihre Bewerbungsunterlagen.
Einen Seufzer ausstoßend hob sie ihre Tragetasche auf und stapfte übellaunisch in die Richtung, in welche der Bus vor einigen Sekunden entschwunden war. Hoffentlich kam um diese Uhrzeit zumindest noch ein Auto vorbei, weil momentan war von etwas Fahrbarem weit und breit nichts zu sehen. Zuversichtlich bleiben, war jetzt angesagt. Denn wenn sie den ganzen Weg zu Fuß zurücklegte, bekäme sie das mit den Passfotos nicht mehr hin. Zumindest für heute.
Obwohl es bereits Anfang Oktober war, war die Luft sehr mild. Die Blätter der Kastanienbäume am Straßenrand, schimmerten bunt in der noch kräftigen Herbstsonne. Conny blinzelte gegen das Licht. Wenn sie nicht so unter Zeitdruck stehen würde, wäre es ihr sogar möglich, den Anblick zu genießen. Flott zog sie den Reißverschluss ihrer Blousonjacke nach oben, wickelte sich ihr Tuch locker um den Hals und schlug den Weg in die Stadt ein.
Eine Zeit lang stapfte sie strammen Schrittes die Landstraße entlang, ohne dass ihr ein Fahrzeug entgegenkam, geschweige denn eines, welches in ihre Richtung fuhr. Angespannt schaute sie wiederholt auf ihre Armbanduhr und legte noch einen Zahn zu. Sie benötigte volle Konzentration auf den Weg. Befahrbar war nur jeweils ein Fahrstreifen, so dass nicht zwei Autos aneinander vorbei kamen. Die Straßenränder waren mit Steinen unterschiedlicher Größe gefüllt und von zahlreichen Schlaglöchern gekennzeichnet. Wenn sie nicht aufpasste, stolperte sie noch über ihre eigenen Füße.
In dem Moment in dem sie erneut ein ausgefahrenes fußtiefes Straßenloch übersprang, hörte sie unverhofft ein Motorengeräusch. Aufgeregt drehte sie sich um und schwenkte heftig ihre Hand mit hochgestrecktem Daumen nach außen. Das Auto, ein wie es aussah nagelneuer roter Lada, manövrierte mit einem Schwenker um sie herum und fuhr schnittig an ihr vorbei. Dabei spritzten ein paar winzige spitze Steine unter den Rädern weg, die sie schmerzlich am Schienbein trafen. So klappte das heute definitiv nicht mehr mit ihrem Vorhaben. Fluchend und frustriert über den Vorbeirauschenden drehte sie sich zurück in Laufrichtung. Verdutzt stoppte sie unvermittelt, da nur ein paar Meter entfernt der rote Lada wartend am Straßenrand stand. Stockend bewegte sie sich weiter. Jetzt war ihr die ganze Sache doch etwas unheimlich. Auch war außer diesem Wagen kein anderes Fahrzeug in Sicht. Es kostete sie einige Überwindung, weiterzugehen. Mittlerweile war die Sonne verschwunden, es dämmerte bereits und die Dunkelheit breitete sich zügiger aus wie gewünscht.
Conny atmete tief durch und setzte langsam, wie auf einem Schwebebalken balancierend, einen Fuß vor den anderen. Sofern sie sich Zeit ließ, verlor der Fahrer vielleicht die Geduld und fuhr weiter. Es gab genug schräge Vögel, die unterwegs waren. Aber wenn sie ehrlich war, brauchte sie dringend diese Mitfahrgelegenheit. Also reiß dich zusammen, redete sie sich ein. Sei nicht so ein Schisshase. Was würde schon passieren? Ihre Bekannten hatten das Abenteuer Trampen auch alle überlebt.
In dem Moment fiel ihr eine vergnügliche Anekdote ihres Freundes ein, der per Anhalter an die Ostsee in einem Trabbi mitgefahren war. In Gedanken an die Erzählung fing Conny an zu kichern. Der Fahrer der Rennpappe hatte ihm den Platz auf der Rückbank zugewiesen. Andreas Aufgabe war es, die ganze Fahrt über, auf dem alten Sternradiorekorder die Starttaste gedrückt zu halten. Anders war das Einrasten dieser nicht mehr möglich. Eine Alternative auf der Autofahrt Musik zu hören gab es nicht. Nicht nur die volkstümlichen Klänge der abgespielten Kassette, auch seine dabei eingenommene verkrampfte Haltung waren enorm anstrengend. Da sich nach gewisser Zeit des Festhaltens ein Taubheitsgefühl seines Zeigefingers abzeichnete, erlaubte er sich, kurzzeitig die Taste loszulassen. Das war absolut nicht im Sinne des Trabantfahrers, was er Andreas in Form eines ungnädigen Knurrens deutlich zu verstehen gab. Der nahm daraufhin sofort wieder die unbequeme Position am Radioknopf ein. Schließlich verspürte er nicht die geringste Lust, dass der Brummbär ihn unterwegs an die frische Luft setzte.
Mittlerweile hatte Conny sich dem roten Lada genähert. Der Fahrer war nicht abgehauen, sondern stand mit laufendem Motor an derselben Stelle wie vor zwei Minuten. Zögerlich beugte sie sich hinunter zur Seitenscheibe, die in diesem Augenblick quietschend hinuntergekurbelt wurde.
Unerwartet sah Conny in zwei stechend smaragdgrüne Augen und zuckte zusammen. Ein Schwindelgefühl breitete sich in ihr aus, und ihre Beine drohten zu versagen. Prompt klammerte sie sich an dem Türgriff des Autos fest und ein halbwegs schiefes Lächeln erhellte ihr Gesicht.
„Das ist ja eine Überraschung. Danke fürs Anhalten“, brachte sie kaum hörbar über ihre Lippen.
„Hallo Conny. Es freut mich dich wiederzusehen“, erwiderte Lutz Tischer und schaute sie belustigt an.
Oh je. So hatte sie sich ihre erneute Begegnung mit ihm nicht vorgestellt. Hatte sie überhaupt eine Vorstellung davon? Jedenfalls bot sie nach der ganzen Aufregung und der Hetzerei auf keinen Fall einen erfreulichen Anblick. Bei der Erkenntnis entfernte sie sich blitzschnell aus seinem Blickwinkel. Lutz beugte sich daraufhin weiter vor, um sie besser zu sehen.
„Alles in Ordnung mit dir? Du schaust so blass aus. Kann ich dir in irgendwie helfen?“
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