„Also, wie ist sie so deine Mutter? Worüber habt ihr gesprochen?“
„Bei unserer ersten Begegnung hatte ich keine Geduld, konnte es nicht abwarten sie mit Fragen zu löchern. Platzte natürlich gleich heraus und wollte wissen warum ich vor Jahren ins Heim gekommen war. Man merkte Jutta deutlich das Unbehagen an, welches sie bei meiner Fragestellung beschlich. Es dauerte auch eine Eisschokolade, bis ich eine Antwort erhielt. Aber ab da sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus, wie wenn jemand die Zeit dafür mit der Stoppuhr festhalten würde.“
Da sie beinahe am Haus ihrer Mutter angekommen waren, erzählte Hanna Jörg, mehr im Telegrammstil, Juttas Geschichte. Dabei gestikulierte sie übermäßig mit beiden Händen in der Luft herum, um ihre aufsteigende Nervosität, die sich beim Näherkommen des monotonen Plattenbaus einstellte, zu kompensieren. Ein Haus hier sah aus wie das andere. Diese Gebäude waren kahl ohne jegliche Art von Verzierungen, hergestellt aus Betonfertigteilplatten. Man nannte sie auch den sozialistischen Wohnungstraum oder im Volksmund Arbeiterschließfächer. Es zählte einzig und allein die Funktionalität der Häuser. Aber aufgrund von Zentralheizung, fließendem Kalt-, Warmwasser und innenliegender Toiletten waren die Wohnungen bei den Bürgern sehr begehrt.
Jutta wohnte im zehnten Stock. Die beiden Freunde legten den Kopf tief in den Nacken, um alle Etagen auf einen Blick zu erfassen. Von den aneinandergereihten farblosen Balkonen glich einer dem anderen. Hanna hatte bereits die Hand auf der Klinke, als die Haustür ihnen entgegen schwang. Behänd sprangen sie zur Seite und wichen zwei finster dreinblickenden Männern aus, die mit verbissenem Gesicht, ohne ihre Umgebung wahrzunehmen, aus dem Haus stürmten. Jörg regte sich wie ein schimpfender Rohrspatz über deren Verhalten auf. Die Herren ließen sich von seinem Ausbruch nicht beeindrucken. Schauten weder rechts noch links.
Kurz blieb Hanna stehen und atmete tief durch. Gleich sah sie Jutta wieder. Ihr aufsteigendes Unbehagen wegwischend zog sie ihren Freund am Ärmel mit zur Treppe und zusammen stapften sie hinauf.
Conny hatte ihr Tagebuch geschnappt und sich damit an ihren Lieblingsplatz zurückgezogen. Seit ihrem zwölften Lebensjahr schrieb sie täglich ein paar Erinnerungen auf. Ihr erstes vor Jahren gekauftes Heft hatte einen kindlichen farbenfrohen Einband, auf dem verschiedene Vogelarten aufgedruckt leuchteten. Spätere Exemplare waren eher schlichte Bücher mit einem winzigen Schloss daran, welche sie auch noch heute favorisierte. Sie fand ihre Gedanken darin zuverlässig verwahrt. Obwohl nicht aufbruchsicher, beruhigte der Verschluss ihre Bedenken, dass andere ungewollt Einblick in ihre Gefühlswelt bekamen. Schließlich gab es eine Menge Neugieriger um sie herum.
Mit Zwölf lernte sie in der Schule Sonja kennen. Ihre Eltern erlaubten Conny, sie ab und an zu Hause zu besuchen. Es gab noch drei jüngere Geschwister und die gesamte Familie hatte sie herzlich aufgenommen. Alle gaben ihr in der kurzen Zeit, die sie miteinander verbrachten das Gefühl bei ihnen jederzeit willkommen zu sein. Selbst zu ihrem Geburtstag oder zu Weihnachten erhielt sie wie selbstverständlich eine Kleinigkeit geschenkt, was sie sehr berührte. Die ganzen tollen Momente, welche in dem Umgang mit der Familie auf sie ein prasselten, vertraute sie ihrem Tagebuch an. Sie war erleichtert, dieses Ventil der Kommunikation für sich gefunden zu haben.
Hauptsächlich besuchte sie ihre Freundin Sonja am Wochenende. Conny liebte die gemeinsamen Spieleabende im kompletten Familienkreis. Ebenso genoss sie es, wenn sich alle geschlossen zum Essen am Tisch versammelten und jeder über seine Erlebnisse des Tages erzählte. Obwohl sie das Zusammenleben mit ihren eigenen Eltern nicht kannte, vermisste sie diese in solchen vertrauten familiären Augenblicken schmerzlich. Natürlich stritten die Geschwister auch untereinander, oft nur um Belanglosigkeiten. Aber daran störte sich Conny nicht im Geringsten. Sie würde gern die unzähligen Kabbeleien in Kauf nehmen, wenn sie dafür eine Schwester oder einen Bruder hätte.
Leider hielt diese unbefangene Zeit mit Sonja nicht lange an. Sie war geknickt, als die Familie in eine andere Stadt zog, mehr wie dreihundert Kilometer entfernt. Sie beide schrieben sich noch über ein Jahr regelmäßig Briefe. Für Besuche war die Entfernung einfach zu weit. Mit der Zeit wurde die Korrespondenz spärlicher und schließlich brach die Verbindung zwischen den beiden Mädchen komplett ab. Das ständige Tagebuchschreiben half ihr den Weggang der Freundin und derer Familie besser zu verkraften. Ihrem Tagebuch vertraute sie seitdem alle für sie wichtigen Gedanken an. So wie heute.
Versonnen knabberte sie an ihrem Bleistiftende, wobei sie zum wiederholten Mal ihre letzten Aufzeichnungen mit glänzenden Augen ansah. Beim Lesen überkam sie erneut eine undefinierbare aufgeregte Kribbeligkeit im ganzen Körper. Nach der Begegnung mit Lutz sprudelten ihre Gedanken, wie frische Seltersperlen, nur so aus ihr heraus. Alle Eindrücke des Abends hatte sie beinahe in autistischer Form festgehalten. Seine heldenhafte Rettungsaktion und ihr kurzes Gespräch waren in ihrem Gedächtnis haften geblieben. Ebenso ließ sie sein eindringlicher Blick nicht mehr los. Diese leuchtendgrünen Augen hatten sich in ihrer Erinnerung eingebrannt. Conny seufzte. Bei seinem Aussehen konnte Lutz sich mit Sicherheit vor Frauenbekanntschaften kaum retten. Auch gab es garantiert nicht einen Grund dafür, warum er sie nicht längst vergessen haben sollte. Außerdem standen dringendere Sachen an, um die es sich zu kümmern galt. Da blieb nicht eine Minute für romantische Gedanken an einen unerreichbaren Traumprinz. Obwohl es nur noch ein halbes Jahr bis zur Abiturprüfung war, hatte sie bis zum jetzigen Zeitpunkt keine Studienplatzzusage. Erst heute wieder bekam sie eine weitere Absage. Ihr Notendurchschnitt war dafür definitiv nicht der Grund, denn der war ausgezeichnet. Ebenso gehörte sie der Gemeinschaft der FDJ an und beteiligte sich regelmäßig an deren Aktivitäten. Auch sonst verhielt sie sich politisch korrekt. Die eigentliche Hürde stellte ihre Herkunft dar. Das Schicksal aller Heimkinder war es, das sie nicht zur Vorzeigegruppe des Arbeiter- und Bauernstaats zählten. Aus genau diesem Grund kam eine berufliche Förderung für sie erst in Frage nach den Jugendlichen, die in sozialistisch korrekten Verhältnissen lebten.
Conny stellte keine hohen Ansprüche. Hauptsache sie erhielt im Endeffekt einen Medizinstudienplatz zugeteilt. Dafür akzeptierte sie, wenn es nicht anders möglich war auch einen Umzug. Es gab viele Städte in der DDR, die sie nicht kannte. Natürlich blieb sie lieber in der näheren Umgebung ihrer Freunde. Das wäre am einfachsten. Aber die meisten von ihnen hatten ebenfalls noch keine Ahnung, wohin es sie nach dem Schulabschluss verschlagen würde. Maßgeblich war für sie, ihren erträumten Wunschstudienplatz zu bekommen. Der Ehrgeiz in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten war geblieben. Conny gab die Hoffnung nicht auf und blieb zuversichtlich, einen Platz zu erhalten. Noch waren schließlich nicht alle vakanten Bewerbungsorte angeschrieben.
Es ward nicht gern gesehen, wenn die Abiturienten parallel Studienbewerbungen an unterschiedliche Hochschulen verschickten. Erst nach einer vorangegangenen Absage war es erlaubt eine neue Anmeldung einzureichen. Conny hielt sich an diese Regeln. Das Risiko war ihr zu groß das man sie aufgrund einer Doppelbewerbung, aus dem Verfahren ausschloss. Es bestand in jedem Fall die Möglichkeit, aufzufliegen, und das Wagnis würde sie nicht eingehen.
Für den Nachmittag hatte sie sich vorgenommen, eine weitere Bewerbung an die Medizinische Hochschule Dresden zu schicken. Bei dem Gedanken daran durchfuhr sie jäh ein Mordsschreck. Ein abwechselnd heiß und eisiger Schauer, ergoss sich über ihren Rücken wie eine Wechseldusche. Verdammt! Ihre Passfotos waren aufgebraucht. So ein Pech aber auch. Sie hatte total vergessen, beim Fotografen neue Bilder schießenzulassen. Morgen am Mittwochnachmittag war der Laden geschlossen. Also blieb ihr bloß noch die Möglichkeit, heute nach Parchim zu fahren. Denn bis die fertigen Fotos abholbereit wären, verging wieder eine Woche. Zu spät um die Bewerbung zu verschickt.
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