Nicht das sie ihre Tochter nicht in ihr Herz geschlossen hatte. Sie war erleichtert, nicht allein zu sein. Das winzige Wesen gab ihr wirklich das Gefühl, gebraucht zu werden. Aber kaum, dass Hannas Schreiattacken anfingen, ließ sie der Lärm die Fassung verlieren. Wenn das der Fall war, flüchtete sie in eine Ecke, hielt sich die Ohren zu und überließ Hanna sich selbst. Der ganze Wirrwarr raubte ihre letzten Kräfte. Ein schleichender Prozess setzte ein und führte dazu, dass sie ihre Tochter und sich jahrelang kontinuierlich vernachlässigte. Eines Tages stand, alarmiert durch die Nachbarin, eine Dame von der Jugendfürsorge vor der Tür. Nach einigem Hin und Her war es amtlich: Jutta war nicht in der Lage sich um ein Kind zu kümmern. Und so kam es, dass Hanna in die Obhut des Kinderheims „Clara Zetkin“ kam. Zehn Jahre war das mittlerweile her. Zehn verdammt lange Jahre, die sie von ihrer Tochter getrennt war. Noch heute machte sie sich deswegen schwere Vorwürfe. Aber die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen.
Obwohl Hanna ihrer Mutter nach deren Auftauchen nicht gleich um den Hals gefallen war und so tun konnte, als ob nichts geschehen sei, dauerte die Annäherung zwischen ihnen beiden nicht allzu lange. Jutta war ihrer Tochter unheimlich dankbar dafür. Sie hätte nicht gewusst, ob und wie sie mit einer Ablehnung klargekommen wäre.
Bis jetzt hatte Hanna sie bereits einige Male zu Hause besucht. Dennoch war Jutta vor jedem Treffen gewaltig aufgeregt. Heute wollte ihre Tochter ihren Freund mitbringen. Diese Tatsache stellte sie und ihr Selbstbewusstsein auf eine harte Probe. Wie reagierte wohl der junge Mann auf sie und was hatte Hanna ihm alles erzählt?
Den ersten Kontakt mit ihr, hergestellt durch die Behörden, gab es vor sechs Monaten. Nach ihrer Anfrage kamen zwei ernst aussehende Herren in ihre Wohnung, sahen sich etwas naserümpfend um und gaben recht flott ihre Zustimmung für ein erstes Treffen. Allerdings wurde sie daraufhin gewiesen, dass man bei der kleinsten Verfehlung den Umgang der beiden sofort einstellen würde, da Hanna noch keine Achtzehn war.
Das Leben hatte Jutta bisher reichlich Stolpersteine in den Weg gelegt. Vielleicht hatte es jetzt ein Einsehen mit ihr und gab ihr im Endeffekt eine zweite Chance, für sie und ihr Kind. Sie wünschte es sich so sehr. Viele Gedanken und Erinnerungen, die sie vor dem bevorstehenden Treffen mit ihrer Tochter wieder bewegten.
Mittlerweile war ihre Zigarette bis auf den Filter abgebrannt. Sie zuckte zusammen, wie die heiße Glut ihren Finger erfasste. Fluchend ließ sie den Stummel in einen grünen Glasaschenbecher fallen.
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„Erzähl doch mal. Wie war das, als du deiner Mutter nach der langen Zeit der Trennung begegnet bist? Was ist das für ein Gefühl, urplötzlich der Person gegenüber zustehen, die einen vor Jahren weggegeben hat?“, fragte Jörg gespannt.
Hanna seufzte. Sie hatte sich genau das schon hunderte Male gefragt, wie sich das anfühlte. Oft horchte sie in sich hinein. Hass, Angst, Abscheu? Es gab in ihrem Inneren keine klare Definition. Weggeben war ja auch nicht ganz die Wahrheit. Sollte sie Jörg ihre Gefühle preisgeben? Warum eigentlich nicht? Schließlich waren sie seit ein paar Wochen zusammen. Mit Sicherheit stellte sich jedes Heimkind früher oder später vor, wie es sich anfühlte, seiner Familie, sofern es sie noch gab, persönlich zu begegnen. Umso spannender natürlich, wenn man jemanden kennt, dem das tatsächlich widerfahren ist. So wie jetzt Hanna.
„Na ja. Es war schon aufregend. Die Nacht zuvor war an Schlaf nicht zu denken und auch in der Schule habe ich an dem Tag nur Bruchstücke mitbekommen.“
„Das glaube ich dir gern“, stimmte ihr Jörg eifrig zu.
„Der Wegener hat mich ja gefragt, ob ich das überhaupt wolle, meine Mutter nach all den Jahren wiederzusehen. Wir haben lange über alle möglichen Aspekte gesprochen, und es ist mir nicht unbedingt leicht gefallen eine Entscheidung zu treffen. Irgendwie war ich natürlich auch sauer, dass ich ihretwegen im Heim gelandet bin. Was denkst du, wie oft ich mir in der Zeit gewünscht habe, dass sie kommt und mich holt?“ Hanna erwartete nicht wirklich eine Antwort von ihrem Freund. Gedankenverloren starrte sie nach vorn. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Behutsam legte Jörg einen Arm um ihre Schulter.
„Hast du mit Conny darüber geredet?“
„Ja. Sie war der Meinung: Einen Versuch sei es wert. Wenn wir nicht miteinander klarkämen, könnte ich den Kontakt ja wieder abbrechen.“
„Das war zu erwarten. Sie hat keine Eltern mehr und nicht die geringste Vorstellung davon, wie einem in so einer Gefühlslage zu Mute ist.“
Hanna blitzte ihren Freund erbost an. „Sei nicht ungerecht. Sie hat meine Entscheidung nicht beeinflusst. Die habe ich allein getroffen, denn ich brauchte endlich Gewissheit, warum Jutta mich fortgegeben hat.“
Jörg knurrte ein: „Wenn du es sagst.“ Hanna überhörte seinen Kommentar geflissentlich und fuhr fort.
„Das erste Mal trafen wir uns in einer Milchbar hier in Parchim. Es war schon komisch Jutta, also meine Mutter, nach Jahren wiederzusehen. Bei ihrem Anblick hatte ich gemischte Gefühle. Das Bild von ihr war verblasst. Nur ihre weit aufgerissenen Augen, mit denen sie mich bei unserer Begegnung ein wenig hilflos ansah, hatten sich in meiner Erinnerung eingebrannt. In mir stiegen Beklemmung, Vorsicht und auch Wut auf. Irgendwie ein Mix aus allem. Natürlich war ich aufgeregt. Aber ihr erging es wohl ähnlich, so scheu wie sie rüberkam. Wir waren beide am Anfang etwas befangen.“
Hanna stockte in ihrer Erzählung, blieb stehen und sah sich suchend um.
„Hier muss es irgendwo sein.“ Jörg sah sie verdutzt an.
„Wieso hier? Ich denke, deine Mutter wohnt in der Platte?“
„Ja, sie schon. Aber da vorn in dem grauen Eckhaus, da wohnen ihre Eltern, also meine Großeltern. Sie hat mir das Haus bei unserem letzten Spaziergang aus sicherer Entfernung gezeigt.“
Jörg zog die Nase kraus, als er den ungepflegten Garten sah, in dem sich ein Haufen Kieselsteine in der Einfahrt stapelte. An den Hauswänden war großflächig der Putz abgebröckelt. Die Eingangstür hingegen erschien wie ein Fremdkörper an diesem Ort. Sie erweckte den Anschein, als wenn man sie erst vor kurzem ausgetauscht hatte. Auf dem Dach der Behausung fehlten ein paar Ziegel und die Regenrinne hing wie an einem seidenen Faden.
„Das sieht nicht wirklich einladend aus. Hast du vor da etwa zu klingeln?“, fragte er skeptisch.
Hanna lachte. „Nee, lass mal. Zu viel Familie auf einen Schlag ist selbst mir eine Dosis zu heftig. Ich bin ja noch nicht mal mit Jutta so eng, da reiße ich mich auf keinen Fall darum, weitere bucklige Verwandte kennenzulernen. Sie hat kaum Kontakt. Ab und an trifft sie sich mit einem ihrer Brüder, aber mehr Verbindung besteht da nicht.“
„Ich bin wirklich erleichtert, dass du auf einen Besuch in dem Hexenhaus verzichtest. Lass uns weiter, deine Mutter erwartet uns in zehn Minuten. Erzähl mir auf dem restlichen Weg noch ein bisschen von ihr.“
Hanna überlegte. Jutta verdiente kaum ausreichend Geld. Ihre Wohnung war nicht besonders komfortabel. Ebenso glich ihr äußeres Erscheinungsbild mitnichten dem eines Mannequins aus der „Sybille“. Hanna bemerkte bei ihren Besuchen oft, dass ihre Mutter sich hin und wieder von der Nachbarin ein paar Gebrauchsgüter oder Genussmittel auslieh. Besonders oft schnorrte sie Zigaretten. Aber sie mischte sich da keinesfalls ein, dafür kannten sie sich noch nicht genug. Sie sah keinen Anlass die etwas unschöne Seite ihrer Mutter Jörg auf die Nase zu binden. Obwohl Hanna sehr dankbar war, dass er sie begleitete. Sein Unwohlsein war ihr nicht entgangen, als sie ihn fragte, ob er sich vorstellen könnte, Jutta an diesem Nachmittag gemeinsam mit ihr zu besuchen. Dennoch hatte er zugestimmt. Ein Stück weit war er sicher gleichermaßen voller Neugier und gespannt auf die Begegnung mit ihrer Mutter. Obwohl er ihr nicht nur einmal zu verstehen gegeben hat, dass er auf so ein Pack, das sein eigenes Fleisch und Blut nicht haben wolle, nicht gut zu sprechen sei. Dass ein Kind auch auf Grund politischer Aktivitäten der Eltern in ein Heim eingewiesen wurde, diese Möglichkeit verdrängte er kategorisch. Wohl in Hinblick auf sein eigenes Schicksal.
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