Wenige Tage vor Ende des Jahres 2007 war dann tatsächlich der Kaufvertrag unterzeichnet, ohne dass die Klassens es schon richtig begreifen konnten. Neben dem durchdachten Businessplan hatte dabei vor allem Klaras seltsames Gefühl, dass Idas Haus sie brauchte, den Ausschlag gegeben. Was sie aber selbstverständlich niemals zugegeben hätte. Dann war aber alles ganz schnell gegangen: Die Eigentumswohnung in Hamburg wurde verkauft und stattdessen mieteten sie ein kleines Apartment, in dem Ralph unter der Woche wohnen würde. Dass er nämlich weiterhin mit seinem gut bezahlten Job als Unternehmensberater von Hamburg aus für einen gefüllten Kühlschrank sorgen würde, war wesentlicher Bestandteil ihrer Finanzierung. Klara war somit die meiste Zeit auf sich allein gestellt, als sie im März auf die Insel zogen.
Idas Haus hatte ihr einen im wahrsten Sinne des Wortes frostigen Empfang bereitet und es hatte Tage und etliche Diskussionen mit der veralteten Heizung gekostet, die klamme, abgestandene Luft aus dem Haus zu vertreiben. Schnell war klar, dass Klara ihre Ansprüche an die Renovierung würde zurückschrauben müssen, um überhaupt erst einmal die notwendigen Sanierungsarbeiten bezahlen zu können. Das aus der Not heraus geborene Weniger-ist-mehr-Konzept, wie Ralph es getauft hatte, zog sich bis heute durchs ganze Hotel. Warum neue Café-Bestuhlung kaufen, wenn man die alte doch mit etwas Beize und Zeit (ok, viel Zeit!) aufbereiten konnte? Warum in einheitliche Dekoartikel investieren, wenn gebrauchte Einzelstücke doch viel mehr Charme hatten? Warum meterweise Wände mit schweren Stofftapeten beziehen, wenn schlichtes Weiß die Einrichtung doch viel besser zur Geltung brachte? Dieser Ansatz hätte wohl leicht in einer Geschmacksverirrung à la Dauerbaustelle trifft Tante Ernas Wohnzimmer enden können, aber glücklicherweise hatte Klara auch hier gewusst, was sie tat. Vielleicht, dachte sie manches Mal, wäre es Ida so auch viel lieber gewesen. Durch die vielen Stunden, die sie allein mit dem Haus verbrachte, hatte sie inzwischen das Gefühl, die ehemalige Besitzerin zu kennen, auch wenn sie von ihr noch nicht einmal ein Foto gesehen hatte.
Was neben Klaras Händchen für Inneneinrichtung einen weiteren Segen für Idas Haus bedeutete, war die Beliebtheit, die die alte Frau auf der Insel genossen hatte. Vielen Insulanern nötigte das eine gewisse Anerkennung dafür ab, dass diese Hamburger ihr Haus erhalten wollten (Ralph vermutete ihren brummigen Wirt hinter der rasanten Verbreitung dieser Nachricht). Ohne die großzügige Hilfe der ansässigen Handwerker wäre das Hotel niemals bis zur geplanten Eröffnung im Mai fertig geworden.
Dann war da aber noch die Sache mit dem Namen gewesen. Eigentlich war das typische Vorgehen dabei kinderleicht, wie Klara schnell festgestellt hatte. Zuerst wählte man eine passende Bezeichnung für das Gebäude, wie Villa (auf der Insel gerade sehr beliebt), Schlösschen, Haus oder Residenz. Im nächsten Schritt entschied man sich für einen möglichst maritimen Begriff, der idealerweise auch noch mit Lage des Objekts harmonierte. Hoch im Kurs standen hierbei Düne, Strand, Heckenrose, Watt oder Leuchtturm. Dann musste man nur doch beide Begriffe kombinieren und schon waren idyllische Domizile wie das „Gästehaus Dünenblick“, die „Strandresidenz“ oder die „Villa am alten Leuchtturm“ geboren, die allesamt einen perfekten Urlaub am Meer versprachen. Klara experimentierte hin und her und kreierte etliche Namen, die sowohl passend als auch klangvoll waren. Leider waren sie aber auch allesamt leer und oberflächlich. Einfach seelenlos. Die beste und gleichzeitig einfachste Idee kam ihr erst wenige Tage vor der Eröffnung, sodass sie bereits Albträume gehabt hatte, ein namenloses Hotel anbieten zu müssen. Sie stand gerade im kleinen Inselsupermarkt und versuchte der Verkäuferin zu erklären, wohin ihre umfangreichen Einkäufe geliefert werden sollten: „Straße zum Westen 40, bitte.“
„Hm? Welches Haus soll das denn sein?“
„Das kleine Backsteinhaus mit den blauen Fenstern“, versuchte Klara zu erklären.
„Hm?“
„Idas Haus!“ Damit war alles klar gewesen und ihr war es wie Schuppen von den Augen gefallen: Idas Haus würde immer Idas Haus sein, genauso wie sie immer Klara sein würde und keine Heike, Marion oder Petra. Aber hätte Ida das auch so gesehen? Wieder einmal merkte Klara, wie wenig sie über diese Frau wusste, egal wie nah sie sich ihr manchmal fühlte. In ihrer Unschlüssigkeit war sie über die Insel spaziert und wie zufällig auf dem kleinen Inselfriedhof gelandet, auf dem sie zuvor ein mit Heide bedecktes Grab entdeckt hatte: In dankbarer Erinnerung an Ida Paulsen. 6. September 1904 - 17. Februar 2000. Nur wer vergessen wird, ist tot, du aber wirst leben. Gerade als Klara die Inschrift las, fiel ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und brachte die weißen Lettern zum Leuchten. Ach, zum Teufel mit allen Pro-und-Contra-Listen! Es würde ihr, Klara Klassen, eine Ehre sein, dass die Erinnerung in Idas Haus weiterleben konnte.
~
Klara war so in ihre Gedanken versunken, dass sie fast über die ältere Dame stolperte, die gerade aus Zimmer 8 kam. „Guten Morgen, Frau Meister! Haben Sie gut geschlafen?“
„Vorzüglich, Frau Klassen, vorzüglich“, entgegnete diese, „die Stille hier ist einfach einmalig! Und in dieser herrlich duftenden Bettwäsche zu schlafen, da fühlt man sich ja fast wie eine Prinzessin.“ Frau Meister kicherte leise vor sich hin und Klara beglückwünschte sich innerlich kurz selbst. Ja, genauso sollten sich ihre Gäste fühlen!
„Jetzt muss ich aber weiter, meine liebe Frau Klassen. Mein Helmut wartet auf seine Zeitung.“ Sie schickte sich an, den Gang hinunter zu trippeln, als Klara sie freundlich zurückhielt:
„Da werden Sie jetzt noch kein Glück haben. Heute ist noch kein Schiff gekommen, wir haben Niedrigwasser.“
„Ja, wir sind ja auf einer Insel …“, Frau Meister kicherte erneut, dieses Mal jedoch etwas hilflos. Ihre Morgenroutine war aus dem Takt geraten!
„Bei uns laufen die Uhren etwas anders, da haben Sie Recht. Aber machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte Klara sie, „sobald die Zeitungen angekommen sind, bringe ich Ihnen eine aufs Zimmer. Genießen Sie doch in der Zwischenzeit den Sonnenaufgang. Es ist doch ein herrlicher Morgen!“
Frau Meister wirkte ehrlich überrascht von diesem Vorschlag, einfach untätig der Sonne beim Aufgehen zuzusehen, aber nach kurzem Zögern wandte sie sich doch der Eingangstür zu. Sie war ja schließlich im Urlaub!
Zufrieden mit sich setzte Klara ihren Weg zur Hintertür fort und stand kurz darauf auf der hinteren Terrasse. Diese war auf zwei Seiten von den Gebäuden des Hotelkomplexes umschlossen, auf den anderen Seiten grenzte sie direkt an die mit Hagebutten und Strandhafer bewachsene Düne. Klara überquerte die Terrasse, die noch im morgendlichen Schatten lag, und folgte dem verschlungenen Dünenweg, der inzwischen mit Holzplanken befestigt war und durch dichtes Gebüsch fast vollständig verborgen von Idas Haus zum Strand führte. Nach wenigen Metern hatte sie den höchsten Punkt der Düne erreicht und vor ihr erstreckte sich das offene Meer. Die Brandung rollte unablässig gegen den grauen Wall des Deckwerks, was Klara heute sah, war aber vollkommen harmlos. Es war ein ruhiger Morgen. Der Wind, der ihr die Haare ins Gesicht trieb, war nur leicht und die Sonne strahlte zwischen lockeren Wolken hindurch. Noch war es kühl, aber Klara war sicher, dass ihnen ein milder Tag bevorstand, der viele Spaziergänger und Radfahrer ins Café führen würde.
Sie blieb ganz ruhig stehen und betrachtete das Zusammenspiel von Meer, Strand und Himmel. Klara kam jeden Morgen hierher und jedes Mal war sie gefangen von der Schönheit des Meeres. Egal, ob im Winter oder Sommer, bei Sturm oder strahlendem Sonnenschein, Klara liebte das Meer mit all seinen Gesichtern.
Читать дальше