Laurel zuckte die Schultern. Ally war sich nicht sicher, inwieweit sie ihr glaubte. Dass Laurel ihre Streifzüge durch die Stadt so oder so nicht guthieß, war aber ohnehin klar. Ihre Betreuerin wollte, dass Ally das tat, was Jugendliche in ihrem Alter normalerweise taten: Mit ihren Mitbewohnern in der Küche sitzen und quatschen, mit den Klassenkameraden beim Imbiss abhängen, mit der besten Freundin shoppen gehen. Blöd nur, dass Ally eigentlich keine Freunde hatte. Was hätten die auch mit jemandem anfangen sollen, der kaum einen zusammenhängenden Satz herausbrachte, wenn mehr als zwei Leute dabeistanden. Aber sie fühlte sich in Gesellschaft einfach unwohl, denn Gesellschaft hieß, dass sie unweigerlich beachtet wurde. Allein die Vorstellung, in einer Boutique eine Jeans zu probieren und sich den Ratschlägen der Verkäuferin erwehren zu müssen oder auf die plumpen Flirtversuche ihrer Mitschüler einzugehen, war ihr ein Graus. Nicht dass sie all das nicht ausprobiert hätte, es führte aber leider nur zu dem Ergebnis, dass Ally regelmäßig im Boden versinken wollte. Laurel das klar zu machen, hatte sie bereits mehrfach versucht und inzwischen aufgegeben. Trotzdem ließ die Nervensäge sie einfach nicht in Ruhe.
Deswegen wunderte es Ally auch nicht, dass Laurel sie, jetzt wieder auf die kumpelhafte Tour, fragte, ob sie nicht zusammen zu Abend essen wollten, „um mal wieder zu quatschen“. Ally wollte das natürlich keinesfalls, denn quatschen hieß bei Laurel verhören, sie nickte aber schicksalsergeben.
Dabei war es auch nicht so, dass sie Laurel nicht ausstehen konnte. Sie traute ihr sogar und das war mehr, als Ally über jeden anderen Menschen sagen konnte. Aber Laurel war trotzdem eine nervige Klette. Was Ally daran besonders störte, war, dass die Sozialarbeiterin es dabei zwar ehrlich gut meinte, das aber vornehmlich aus beruflichem Ehrgeiz und weltanschaulichen Idealen. Allison Christie war eines ihrer Projekte, deswegen begegnete Ally ihr ebenso „auf Arbeitsebene“. Irgendwann würde sie nicht mehr hier wohnen und dann würde Laurel neue Projekte haben, deswegen lohnte es einfach nicht, irgendwelche Gefühle zu investieren. Das gehörte auch zu Allys Regeln, damit das Leben irgendwie ok war und es auch bleiben würde.
Dabei musste sie zugeben, dass Laurel ihren Job gut machte, besser als alle anderen Betreuer, die sie im Laufe der Jahre kennengelernt hatte. Ihr Beruf war ganz klar ihre Berufung und fügte sich nahtlos in ihre sonstige Lebenseinstellung ein: Laurel kämpfte für eine bessere Welt! Wenn sie nicht in der Wohngruppe arbeitete, war sie Vorstandsmitglied eines interkulturellen Vereins und schrieb Petitionen gegen die Verschmutzung der Meere durch Plastikabfälle. Sie selbst benutzte natürlich keinerlei derartige Verpackungen, sondern trug stets einen abbaubaren Jutebeutel bei sich. Gleiches galt für ihren Becher aus Bambus, aus dem sie ihren Bio-Tee schlürfte. Laurel ernährte sich ausschließlich vegan und verzichtete auch bei ihrer Kleidung auf jegliche tierische Materialien. Dagegen hatte Ally auch überhaupt nichts einzuwenden, aber warum mussten ihre Klamotten denn auch sonst so „öko“ aussehen? Wahrscheinlich weil genau das Laurel gefiel und so vervollständigte diese ihr Selbst mit einer lila Haarsträhne im kurzen Pixicut, unzähligen Festival-Bändern ums Handgelenk und einer kleinen afrikanischen Gottheit aus Holz, die stets in ihrem linken Ohrläppchen baumelte. Es war also nicht schwer zu erraten, warum Ally ihr den Spitznamen „die Engagierte“ gegeben hatte. „Mutter Theresa“ hatte auch zur Auswahl gestanden, aber die war in Allys Vorstellung nicht auf so eine verbissene Weise heilig.
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Wenig später war Ally, endlich in einem trockenen Shirt, auf dem Weg in die große Gemeinschaftsküche, die sich in einem Anbau hinter dem Haus befand. Der Raum war dank mehrerer bodentiefer Fenster hell und in freundlichem Gelb gestrichen. Ein langer Holztisch mit verschiedenen Stühlen dominierte die Küche. Einige der zwölf Jugendlichen zwischen vierzehn und achtzehn Jahren, die hier in der Wohngruppe lebten, waren bereits versammelt. Manche halfen Susan, der zweiten Sozialarbeiterin in Vollzeit, beim Kochen, andere waren in ihre Smartphones vertieft.
Keiner von ihnen sah auf, als Ally eintrat. Schnell ließ sie sich auf den Stuhl gegenüber von Laurel sinken, die ihr völlig überflüssigerweise zugewinkt hatte. Als ob man sich hier in dieser Küche verfehlen könnte. Tapfer machte sie mit Laurel Smalltalk, bis das Essen auf dem Tisch stand. Kaum hatte sie aber den ersten Bissen auf der Gabel, stellte Laurel die Frage, die sie scheinbar schon den ganzen Tag auf der Zunge hatte: „Und? Jetzt erzähl‘ doch mal. Wie soll es jetzt bei dir weitergehen?“
Ich esse jetzt, dann gehe ich schlafen und um 23:00 Uhr treffe ich Crispy am Theater, dachte Ally, aber das wollte und durfte Laurel natürlich nicht wissen. Also antwortete sie nur vage: „Mal schauen.“
„Jetzt komm‘, Ally, das kann doch nicht dein Ernst sein“, ereiferte Laurel sich, „du bist sechzehn Jahre alt, da kann man doch erwarten, dass du dir wenigstens ein paar Gedanken für die Zukunft machst!“ Ally seufzte schwer. Nein, darüber wollte sie doch nicht nachdenken, geschweige denn mit Laurel darüber diskutieren. Brachte doch sowieso nichts.
Laurel seufzte ebenfalls. Wenn sie sich Ally so ansah, war es aber auch wirklich schwer zu glauben, dass das Mädchen bereits sechszehn war: Ally klein und elfenhaft zierlich, dazu kam das blasse Puppengesicht mit den Sommersprossen und den großen braunen Augen. Der ernsthafte Blick in diesen Augen war das einzige, was Laurel stets aufs Neue dazu brachte, dieses Mädchen nicht abzuschreiben. „Gut, dann überlegen wir jetzt mal gemeinsam. Im Sommer machst du deinen ersten Schulabschluss, du könntest danach weiter zur Schule gehen.“
Diese Möglichkeit war Ally natürlich bekannt, aber wollte sie das? Das bedeutete eine neue Klasse und eine neue Klasse bedeutete zum einen neue Mitschüler. Einige davon würden sie vielleicht einfach nur kennen lernen wollen, andere waren aber bestimmt nur darauf aus, ein neues Opfer für ihre Hänseleien zu finden. Und eine Rothaarige, die wie dreizehn aussah, im Heim lebte und den Mund nicht aufbekam, war doch die Idealbesetzung für diese Rolle, nicht wahr? Zum anderen bedeutete eine neue Klasse neue Lehrer. Mindestens die Hälfte von denen würde beim Verlesen der Namensliste bei ihr hängen bleiben: „Ally Christie? Du heißt ja wie diese Schauspielerin!“ Nein, das war Kristie Alley, so viel hatte Ally nach zahlreichen Vorfällen dieser Art schon herausgefunden, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, jemals einen Film mit dieser Dame gesehen zu haben. Aber allein die Ähnlichkeit der Namen führte dazu, dass Ally mehr Aufmerksamkeit zu Teil wurde, als ihr lieb war. Weiter zur Schule zu gehen, erschien ihr also nicht die beste Idee zu sein.
Laurel schien ihr Schweigen auch so zu deuten und fuhr fort: „Die andere Möglichkeit ist natürlich eine Ausbildung. Da gibt es ja diverse Möglichkeiten. Was meinst du, was dir liegen könnte?“ Das war die falsche Frage, dachte Ally und stocherte lustlos in ihren Nudeln herum. Egal, was ihr vielleicht lag (wobei sie im Moment keine Idee hatte, was das sein mochte), entscheidend war doch, ob sie es auch konnte. Allein die Vorstellung ein Bewerbungsgespräch durchzustehen verursachte ihr Bauchschmerzen. Und sollte sie dann wider Erwarten doch jemand einstellen, würde sie sogar mit Kunden sprechen müssen und zusätzlich zur Schule gehen. Also auch keine gute Idee.
Da war es doch besser, sie würde sich irgendeinen Job suchen, bei dem sie nur in irgendeinem Lager Pakete packen musste und niemanden interessierte. Ally konnte sich Laurels Reaktion auf einen solchen Vorschlag aber nur zu gut vorstellen, also sagte sie nur: „Ich überleg‘ mal, ok?“ Dann entschuldigte sie sich unter einem Vorwand und verschwand auf ihr Zimmer. Der Nudelteller auf ihrem Platz war noch fast voll.
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