Klaras Blick wanderte langsam weiter Richtung Anleger, da sah sie es zum ersten Mal: Etwas abseits der anderen Gebäude, duckte sich ein Haus aus rotem Backstein in die Dünen. Ohne dass sie es hätte benennen können, hatte dieses Haus etwas an sich, dass sie wie magisch anzog. „Komm‘, Schatz, das schauen wir uns mal an!“ Sie gingen auf dem Deckwerk weiter, bis sie einen verschlungenen Dünenpfad erreichten, der direkt auf das Haus zuführte. Klara zögerte.
„Was ist denn?“, fragte Ralph. „Du wolltest es dir ansehen, also gehen wir hin.“
„Vielleicht ist das Privatgelände“, überlegte die brave Klara und sah sich so unbehaglich um, als würde sie einen Banküberfall planen.
„Steht hier ein Schild? Nö! Dann also los.“ Damit zog Ralph sie am Ärmel und schon nach wenigen Minuten hatten sie das Haus erreicht. Der Bau war länglich und schlicht und das Dach weit nach unten gezogen. Das Besondere aber waren die Fenster, die in einem leuchtenden Meerblau gestrichen waren. Hier und da blätterte die Farbe ab.
„Ich denke, hier wohnt keiner mehr“, meinte da auch Ralph und ging ungeniert um das Haus herum. Klara folgte ihm und sah, dass sich nach hinten heraus ein rechtwinkliger Anbau an das Haupthaus anschloss. Dieser wiederum reichte bis zu einem großen Holzschuppen heran, den sie für eine Scheune gehalten hätte, würde sie nicht wissen, dass es auf der Insel keine Landwirtschaft gab. Alles wirkte alt und vernachlässigt, man spürte aber noch deutlich die liebevolle Hand, die dieses Fleckchen Erde einst geschaffen haben musste. Sie gingen noch ein Stück weiter und entdeckten an der Hausseite, die zur Straße gerichtet war, ein rotes Schild mit weißer Schrift: Zu verkaufen. Ralph deutete darauf und zog vielsagend die Augenbrauen hoch.
„Quatsch!“ Klara schüttelte energisch den Kopf, ging aber noch einmal zum Haus zurück. Durch eine verstaubte Scheibe sah sie drinnen etwas, das nach einem Verkaufstresen aussah, sowie ein Gewirr aus Stühlen und einigen Tischen. „Du, ich glaube, das war mal ein Café“, überlegte sie und konnte nicht vermeiden, dass ihre Stimme aufgeregt klang. Ralph hatte bereits sein Handy gezückt und begann zu tippen. „Was machst du?“, fragte Klara skeptisch.
Ralph grinste. „Ich ruf‘ den Makler an.“ Er deutete auf die Telefonnummer auf dem roten Schild.
„Das ist verrückt!“
„Warum?“ Ralph zuckte die Schultern. „Nur mal gucken kostet ja nichts.“ Dachte Klara später an dieses Moment zurück, beschlich sie jedoch der Verdacht, dass Ralph von Anfang an die Chance gewittert hatte, sie endlich in die Selbstständigkeit zu schubsen.
Der Makler wohnte nicht weit von Harlesiel entfernt und wollte sich tatsächlich schon am nächsten Tag mit ihnen für eine Hausbesichtigung treffen. „Hab‘ ich noch nicht lange im Angebot“, erklärte er, als er umständlich die von der Feuchtigkeit verzogene Tür aufschloss, „stand aber lange leer, bevor sich die Erben jetzt zum Verkauf entschlossen haben.“
Fast ehrfürchtig betrat Klara das Haus und sah sich um. „Leider ist der Zustand nicht mehr der beste“, murmelte der Makler in ihrem Rücken, der das Haus heute anscheinend zum ersten Mal sah. „Dafür ist der Preis aber auch fair, obwohl das Grundstück allein schon ein Vermögen wert wäre.“ Mit seiner ersten Aussage hatte er dabei zweifellos Recht: Das wenige Mobiliar war alt und abgenutzt, die Wände fleckig und die Fenster zugig. Jedoch waren die Zimmer schön geschnitten und das Haus war von innen geräumiger, als es von draußen erschien.
Klaras Fantasie lief auf Hochtouren und in ihrem Kopf explodierten die Bilder. „Hier unten müsste wieder ein Café rein und draußen hat man dann eine herrliche Sonnenterrasse in den Dünen. Und in den Anbau kommen Gästezimmer.“ Der Makler führte sie jetzt durch einen Flur ins erste Obergeschoss und Klara erstarrte. „Und hier würden wir wohnen“, flüsterte sie und griff nach Ralphs Hand. In der Tat war das Zimmer, in dem sie gerade standen, außergewöhnlich: Mehrere Dachfenster ließen den Raum selbst an diesem trüben Novembertag hell erscheinen. In die Dachschräge war Richtung Westen ein großer Giebel mit einem halbrunden Fenster eingelassen, das den Blick auf die Dünen freigab. Vor allem aber konnte man von hier aus das Meer sehen, das in diesem Moment ruhig und einladend da lag, als würde es auf sie warten.
Als die beiden am Ende des Tages in einem gemütlichen Insellokal aufs Abendessen warteten, sprudelte Klara immer noch vor Ideen. Alles rein hypothetisch versteht sich.
„Soso, wollen Sie hier also ein Haus kaufen“, fragte der Wirt, als der die Getränke brachte, ohne anstandshalber wenigstens so zu tun, als hätte er nicht mitgehört.
„Das war nur so ein Gedanke, wahrscheinlich eher nicht“, schränkte Klara gleich ein, aber Ralph nutzte die Gelegenheit und erkundigte sich, ob der Mann etwas über das leerstehende Haus am Westturm wusste.
„Soso, ihr meint Idas Haus“, erwiderte dieser, als würde das alles erklären.
„Wer ist Ida?“, fragte jetzt auch Klara neugierig nach.
„Wer war Ida, ist wohl eher die Frage. Ida Paulsen, sie hat viele Jahre in dem Haus gewohnt und hatte auch lange so’n kleinen Kiosk da.“ Klara fiel ein, dass sie während der Klassenfahrt damals dort Erdbeermilch gekauft hatten. Es hatte aber auch Spülmittel, Dosentomaten und Zahnpasta dort gegeben. „Anfang der Achtziger ist ihr der Laden dann zu viel geworden“, fuhr der Wirt fort, „da war sie aber schon weit über siebzig. Ist dann aber noch bis zu ihrem Tod in dem Haus geblieben. 2000 war das, da erinner‘ ich mich noch genau dran.“
Idas Haus. Ein freudiger Schauer lief Klara über den Rücken. Das Haus hatte also wirklich eine Seele.
„Es gab auch ein kleines Café in Idas Haus, oder?“, erkundigte sie sich, als der Wirt wenig später die gebratenen Schollen (die wirklich vorzüglich waren) servierte.
„Joa, kann schon sein, dass die alte Ida da mal Kaffee verkauft hat“, brummte er. „Heute ist sowas dann ja immer gleich ein Café und es gibt Cappuccino und so’n Gedöns.“ Er verschwand, um einen anderen Tisch zu bedienen, tauchte aber wenig später wieder auf.
„Soso, Hamburger seid ihr also und wollt Idas Haus kaufen“, stellte er noch einmal fest und sah sie argwöhnisch an. „Wollt ihr dann bestimmt abreißen und so schicke Apartments bauen lassen.“
„Nein!“, rief Klara aus tiefstem Herzen. „Das Haus muss stehen bleiben. Ich würde gerne ein kleines Hotel daraus machen. Mit einem Café natürlich“, fügte sie fast schüchtern hinzu.
„Soso, ein kleines Hotel willst du daraus machen“, echote der Wirt und rieb sich den Schnurrbart. „Stell‘ dir dat man nicht so einfach vor, Deern. Da brauchst du mehr als so’n bisschen schaumige Milch. Die Touris müssen da erst mal hinkommen, in den Westen. Und wir Insulaner sind schon so’n spezielles Völkchen. Und im Winter kann‘s schon mal ungemütlich und einsam werden. Und wenn ich erst an das Haus denke…oh, oh.“ Er schüttelte sorgenvoll den Kopf und brachte ihnen unaufgefordert zwei Schnaps. „Hier, könnt ihr wohl brauchen. Aber Respekt, wenn ihr’s wirklich versuchen wollt.“
Zuerst musste Klara sich ein Schmunzeln verkneifen. Der Mann war anscheinend nicht nur reichlich konservativ, sondern hielt sie augenscheinlich auch für ein unbedarftes, kleines Blondchen aus der Großstadt, obwohl er kaum zehn Jahre älter war als sie. Dann sickerte aber langsam die Erkenntnis durch, dass er mit allem Recht hatte, und ihre Begeisterung verpuffte.
„Lass‘ uns darauf trinken“, sagte Ralph da aber und hob das kleine Glas.
„Worauf?“, erwiderte Klara gereizt.
„Darauf, dass wir ernsthaft darüber nachdenken werden.“
~
Ja, sie dachten darüber nach und nicht nur das: Konten wurden geprüft und Banken konsultiert, während Klara einen ersten Businessplan ausarbeitete. Ohne wäre das ganze Unterfangen natürlich ein Himmelfahrtskommando geworden, was sie um jeden Preis vermeiden wollte. Nicht nur, dass sie existenzielle Angst vor einer Pleite hatte, ihr war es auch schlichtweg ein Graus mit diesen naiven Aussteigern in einen Topf geworfen zu werfen, die ohne Geld, ohne Plan und ohne Sprachkenntnisse in irgendein exotisches Land auswanderten und dann später in einer Reality Show wieder auftauchten.
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