Nach wenigen Minuten wandte sie sich um, um zum Hotel zurückzukehren. Von ihrem Platz oben auf der Düne hatte sie den gesamten Gebäudekomplex im Blick, auch wenn sie jetzt blinzeln musste, um gegen die noch tief stehende Sonne etwas zu erkennen. Vieles hatte sich in den vergangenen Jahren verändert: In der ersten Saison war sie mit nur drei Gästezimmern und Cafébetrieb gestartet. Zum Glück war ihr Konzept aufgegangen und das Geschäft lief gut an. Über die Jahre konnte sie so die bestehenden Gebäude komplett ausbauen und sogar einen zweiten Flügel anbauen. Im ursprünglichen Haus befand sich heute weiterhin das Café und Bistro, das auch den Hotelgästen als Frühstücksraum diente. Im ersten Stock hatten Ralph und Klara ihre eigene Wohnung eingerichtet, genauso wie Klara es sich erträumt hatte. Der Anbau war um eine Etage aufgestockt worden und beherbergte die inzwischen zwölf Hotelzimmer. Der Holzbau war isoliert worden und diente als Saal für Feierlichkeiten. In den neu geschaffenen Zimmern darüber brachte Klara ihre Saisonkräfte unter. Der zweite Flügel war in einer Linie mit dem Haupthaus angebaut, sodass zwischen diesem und dem Hoteltrakt eine zweite Terrasse mit Grillplatz und kleinem Spielplatz entstanden war, die den Hausgästen vorbehalten war. In diesem Neubau waren sechs Ferienwohnungen eingerichtet worden, in denen Klara inzwischen viele Stammgäste begrüßen durfte. Bei allen Baumaßnahmen war Klara der ursprünglichen, schlichten Backsteinoptik treu geblieben, sodass sich das Hotel heute harmonisch in die raue Nordseelandschaft einfügte. Dieser Verzicht auf große Glasfronten, drei und mehr Stockwerke oder kastenförmige Bauwerke, die das Grundstück bis auf den letzten Zentimeter ausfüllten, hatten Klara zudem endgültig die Anerkennung der Insulaner eingebracht. Ein nicht zu vernachlässigender Fakt, wenn man auf so einer kleinen Insel heimisch werden wollte. Über das kleine Detail, das Klara stets am wichtigsten gewesen war, schüttelten aber dennoch viele den Kopf: Jedes neue Fenster musste meerblau sein.
Inzwischen waren zehn Jahre vergangen, seit sie das erste Mal mit Ralph auf dem Deckwerk gestanden hatte. In diesem Sommer würde das Hotel „Idas Haus“ Jubiläum feiern. Dieser Gedanke erfüllte Klara mit tiefer Genugtuung. Wer kämpft, konnte alles schaffen. Und was einen dabei nicht umbrachte, machte eindeutig stärker.
Kapitel 3
Edinburgh, April 2018
22:30 Uhr. Wie jedes Mal war Ally wach, bevor der Wecker ihres Handys klingelte. Sie stellte den Alarm aus, stand leise auf und zog sich im Dunkeln zügig an. Über ihren inzwischen wieder trockenen Hoodie zog sie ihre dicke Winterjacke. Die Nacht würde nicht nur empfindlich kalt, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch genauso nass werden wie der Nachmittag. Sie verstaute Handy und Schlüssel in den Jackentaschen, dann öffnete sie vorsichtig die Tür und schlich durch den Flur Richtung Haustür. Bei jedem ihrer nächtlichen Ausflüge war dieses erste Stück des Weges das heikelste. Heute hatte zu allem Überfluss Laurel die Nachtschicht und verbrachte die Nacht in der Wohngruppe. Und diese lauschte garantiert auf jedes kleinste Geräusch, aus Angst jemand könnte sich wegschleichen. Wie kam sie bloß auf so eine abwegige Idee? Ally grinste still vor sich hin. Als sie an Laurels Zimmertür vorbeikam, hörte sie aber von Drinnen nur monotones Schnarchen und hätte am liebsten laut losgelacht. Sie riss sich aber zusammen und ging vorsichtig weiter. Eine weitere Begegnung mit Laurel wollte sie heute um jeden Preis vermeiden!
Als sie endlich auf dem Bürgersteig stand, atmete sie auf. Geschafft. Wieder einmal. Ally blickte sich kurz prüfend um, dann schlug sie zielstrebig den Weg Richtung Festival Theatre ein. Die aufziehende Nacht hatte die Stadt verändert. Der stete Strom aus Touristen mit Kameras um den Hals war versiegt. Stattdessen teilten sich dahineilende Pärchen auf dem Weg zurück ins Hotelzimmer, aufgebrezelte Partygänger und dunkle Gestalten, die stets eine Straßenseite für sich alleine hatten, die Straßen. Von allen unbeachtet kam Ally schnell voran und erreichte pünktlich die vereinbarte Bushaltestelle. Sie lehnte sich scheinbar unbeteiligt an eine Mauer und zog das Smartphone aus der Tasche, als würde sie auf den Bus warten. Es musste auf die Minute genau 23:00 Uhr sein, als ein großer Schatten neben ihr auftauchte. Crispy war da. Obwohl das bestimmt nicht sein richtiger Name war, hatte Ally auch ihn mit einem Spitznamen bedacht. „Kastenbrot“. Damit waren sowohl sein Äußeres als auch sein Charakter vollumfänglich beschrieben. Wenigstens war er pünktlicher als sein Kumpel mit dem Rattengesicht und bewegte sich trotz seiner Statur überraschend schnell und gewandt.
Nachdem die beiden einige belanglose Worte gewechselt hatten, schlenderten sie wie ziellos auf das Theater zu. Wie geplant war die Vorstellung gerade zu Ende und das Foyer und der Platz davor füllten sich mit Menschen. Crispy blieb im Schatten einiger Müllcontainer stehen und nickte Ally zu: „Los geht’s, Swirrel, dein Auftritt!“ Oh ja, ihr großer Auftritt… Diesen Teil ihrer Verabredungen hasste Ally. Aber es half ja nichts, genau dafür war sie hier. Also strich sie sich die Haare ordentlich aus dem Gesicht, steckte den roten Zopf in den Kragen und ging auf das hell erleuchtete Foyer zu. Als Crispy das nächste Mal hinsah, war Ally bereits in der Menge verschwunden. Vor allen Augen und doch irgendwie unsichtbar schlängelte sie sich durch die Leute. Sie war doch einfach nur ein Mädchen, das gerade aus dem Theater kam und nach ihrer Begleitung Ausschau hielt. Wer würde beim Blick in ihr unschuldiges Puppengesicht schon etwas anderes vermuten. Die meisten Theaterbesucher nahmen aber ihre Umwelt ohnehin nicht wahr, sie waren noch zu gefangen in der fantastischen Welt, in die die Aufführung sie entführt hatte. Auf jeden Fall würde sich morgen niemand mehr an das Mädchen erinnern, das ihnen auf dem Weg nach draußen begegnet war.
Ally aber nahm jedes Detail in sich auf. Systematisch scannte ihr Blick jeden, der ihr entgegenkam. Dieses Pärchen hier war zu alt, dieser Herr hatte die falsche Nase. Also weitergehen. Sie musste nicht lange suchen, dann hatte sie die gefunden, wegen derer sie heute hier waren. Das Pärchen war Anfang dreißig und gut gekleidet. Er war hochgewachsen, hatte einen Seitenscheitel und trug eine schwarze Brille. Sie war mindestens zwei Köpfe kleiner als ihr Freund, blond und heute Abend auffallend hübsch zurechtgemacht. Kein Wunder, dachte Ally, dass der Typ verrückt nach ihr war.
~
Deswegen waren ihr die beiden gestern auch aufgefallen, als sie sich wild knutschend in den Princes Gardens herumgedrückt hatten. Als der Typ seine Freundin wenig später in einer Eisdiele zurückgelassen und sich nach einer umständlichen Entschuldigung eilig entfernt hatte, war Ally ihm gefolgt. Zu gerne hätte sie entdeckt, dass die Blondine nur die heiße Affäre war und auf einem Spielplatz die Ehefrau und zwei kleine Kinder warteten. Dieser Ehefrau einen kleinen, anonymen Tipp zukommen zu lassen, hätte ihr gefallen. Dazu war es jedoch nicht gekommen, denn der Typ war in einem exklusiven Juweliergeschäft verschwunden und kurz darauf mit einer kleinen, schwarzen Samtschatulle wieder herausgekommen. Ein Verlobungsring! Das war nicht schwer zu erraten gewesen, besonders da der Typ angefangen hatte, nervös mit der Schatulle zu spielen, bevor er sie tief in der Manteltasche versenkt hatte. Ally war ihm zurück zu der Blondine gefolgt, die er dann mit den Theaterkarten überrascht hatte. „Hier, Schatz, die habe ich gerade gekauft. Für heute Abend gab es noch günstige Restplätze.“ Was für ein Lügner, hatte Ally gedacht, die Karten hatte er doch schon länger. Und günstige Restkarten waren das somit bestimmt nicht. Er hatte das Ganze also von langer Hand geplant, woraus Ally gefolgert hatte, dass der Ring an diesem Abend den Besitzer wechseln sollte. Zudem hatte sie an der Farbe der Karten das Theater erkannt, das er ausgesucht hatte (nach allem, was Ally so zu Ohren kam, sehr gute Wahl). Sie kannte also den Ort, die Zeit und das Objekt. Bei so vielen Details, die ihr quasi auf dem Silbertablett geliefert wurden, konnte sie einfach nicht widerstehen. Daran änderte auch das aufkommende Mitleid nichts, das sie mit dem potentiellen Bräutigam empfand.
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