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Ally beobachtete, wie das Pärchen jetzt auf den Taxistand zuging, an dem noch ein Fahrzeug wartete. Scheinbar zufällig verstellte sie den beiden den Weg, als sie sich bückte, um den Schnürsenkel neu zu binden. Als sich ihre Zielpersonen an diesem Hindernis vorbeigedrängelt hatten, war bereits eine fünfköpfige Familie dabei, sich in das Taxi zu quetschen. Jetzt müsst ihr warten, ihr Turteltäubchen, Pech gehabt! Äußerlich wirkte Ally vollkommen unbeteiligt, innerlich jubelte sie aber über den gelungenen Schachzug. Die beiden schienen aber auch nicht allzu traurig über die Verzögerung, sie waren einfach viel zu verliebt und viel zu selig über den schönen Abend. Genau das würde sie unaufmerksam machen. Zufriedene Theaterbesucher und/oder Verliebte waren einfach die idealen Opfer. Jetzt musste Ally aber schnell sein, bevor das nächste Taxi eintraf. Sie huschte zurück zu den Müllcontainern, wo Crispy wartete.
„Auf zwei Uhr, das Pärchen am Taxistand, die Schatulle ist in seiner rechten Manteltasche“, informierte sie Crispy, während sie ihre Jacke in eine dunkle Ecke stopfte und die Kapuze tief ins Gesicht zog. Dann eilten beide los, sie von links, er von rechts auf den Taxistand zu. Ally rempelte die Blondine scheinbar aus Versehen an, murmelte eine Entschuldigung und verschwand hinter der nächsten Ecke. Der Typ bemühte sich erwartungsgemäß sofort um seine strauchelnde Freundin und bemerkte Crispy nicht, der ihm von hinten blitzschnell in die Tasche griff, um daraufhin ebenfalls in der Dunkelheit zu verschwinden.
Wenig später traf Ally Crispy hinter den Müllcontainern wieder, als sie gerade ihre Jacke wieder anzog. Er lachte euphorisch und ließ den Ring im Schein der Straßenlaterne funkeln. Der Diamant in der schlichten Fassung war wirklich beeindruckend groß!
„Ey, sei vorsichtig, du Depp. Ich will nicht in die Sache mit reingezogen werden!“, herrschte Ally ihn an.
„Nicht mit reingezogen werden? Was redest du da, Swirrel, das Schätzchen hier verdanke ich nur dir.“ Er tätschelte den Ring wie ein kleines Kätzchen. „Was willst du dafür?“
„Gar nichts, weißt du doch“, erwiderte Ally ungerührt, schloss den letzten Kopf ihrer Jacke und wandte sich zum Gehen. „Mach’s gut, Crispy!“
Tatsächlich verdiente Ally mit ihren Informationen keinen Penny. Sich zu bereichern würde sich für sie anfühlen, als wäre sie Teil des Verbrechens. Aber Crispy oder Josh waren ja die Langfinger, nicht sie. Sie konnte ja eigentlich gar nichts dafür, dass das Kastenbrot zufällig dem Typ einen Ring klaute, dessen Freundin sie aus Versehen angerempelt hatte. Ally spielte dieses Spiel schon so lange, dass sie diese Logik inzwischen uneingeschränkt glaubte. Und vor allem war sie gut darin. Verdammt gut. Das war auch der einzige Grund, warum sie sich immer wieder den Risiken solcher Aktionen aussetzte, egal wie groß ihre Angst vor Aufmerksamkeit auch war. Jeder brauchte schließlich irgendetwas, worin er gut war. Andere zogen ihr Selbstbewusstsein vielleicht aus guten Noten, sportlichen Erfolgen oder einem großen Freundeskreis. Bei Ally war es eben der Kick, den sie verspürte, wenn eine unscheinbare Samtschatulle von einer Manteltasche zur anderen wanderte.
Zufrieden mit dem bisherigen Verlauf der Nacht schlenderte Ally durch die Straßen. Jetzt eine Zigarette! Leider waren ihre Jackentasche bis auf Handy und Schlüssel leer. Dabei hatte sie doch erst gestern eine Schachtel gekauft (gekauft wohlgemerkt!). Wenn da nicht mal wieder Laurel dahintersteckte! Zum Glück wusste Ally, bei wem sie zu dieser Tageszeit eine Zigarette schnorren konnte. Sie bog in eine dunkle Gasse ab und verschwand durch einen versteckten Zugang in der Mary King’s Close. Die ehemalige Gasse war seit einer mittelalterlichen Pestepidemie zugemauert und hatte sich mit dem angrenzenden Labyrinth aus Gängen und Kammern zu einer „Stadt unter der Stadt“ entwickelt. Ally umging geschickt eine Gruppe Touristen, die viel Geld gezahlt hatten, um sich geführt von kostümierten Schauspielern in Edinburghs Unterwelt so richtig schön zu gruseln. Es gefiel ihr gar nicht, dass diese Gruseltouren immer beliebter wurden. Diesen Ansturm auf eines ihrer Lieblingsverstecke fand sie viel furchteinflößender als die Geister irgendwelcher Pestopfer, die hier unten spuken sollten.
In der Dunkelheit eines Seitenganges sah sie ein Feuerzeug aufflackern und wusste, dass sie Daphne gefunden hatte.
„Hey, Kleines“, grüßte diese und lächelte breit, sodass ihre gelblichen Zähne im Schein des Feuerzeugs blitzten. Ungefragt reichte sie Ally eine Zigarette, wobei ihre unzähligen Strassarmreifen klimperten. Daphne war für Ally eine schöne Frau: Mit ihrem glänzenden schwarzen Haar, den langen Beinen in schimmernden Strumpfhosen, dem perfekten Make-up und den paillettenbesetzten Kleidern drehte sich wohl jeder nach ihr um. Ally bewunderte Daphne dafür, dass sie diese Aufmerksamkeit so genoss. Ihr Blick fiel auf den kurzen fransenbesetzten Lederrock, den diese heute trug. „Neu?“
„Oh ja!“ Daphne drehte sich kokett. „Man verdient ja kein Geld, wenn man immer dieselben Fummel anhat.“
Ally wollte nicht weiter darüber nachdenken, wie genau Daphne ihr Geld verdiente. Also nickte sie nur, als wüsste sie genau, wovon diese sprach, und konzentrierte sich auf ihre Zigarette. Rauchend lehnten die beiden nebeneinander an der kalten Wand, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Ein bisschen Gesellschaft, mehr wollte keine von ihnen. Irgendwann trat Daphne ihren Zigarettenstummel mit dem Absatz aus, winkte zum Abschied und verschwand. Auch Ally machte sich wieder auf den Weg.
Sie hatte es aber nicht eilig, zurück in ihr Bett zu kommen. Aufgeputscht von Adrenalin war sie nicht im Geringsten müde. Sie schlenderte durch die Straßen und nahm dabei gierig jedes kleinste Detail wahr. Wer wusste schon, wofür es nützlich sein konnte. In einer ruhigen Wohnstraße war trotz der späten Stunde ein Fenster im Erdgeschoss erleuchtet. Ally spähte hinein und sah ein Kind mit seiner Mutter am Küchentisch sitzen. Die Augen des kleinen Jungen waren vom Weinen noch gerötet, jetzt umklammerte er aber zufrieden eine dampfende Tasse mit Kakao oder heißer Milch, wie Ally vermutete. Bestimmt hatte er schlecht geträumt und die Mutter tröstete ihn. Ally betrachtete die Szene wie einen Nachrichtenbeitrag über ein verheerendes Erdbeben in Südostasien. Sie wusste, was das Geschehen für die Beteiligten bedeuten musste, aber nachempfinden konnte sie es nicht. Es war einfach viel zu weit weg.
Ohne so recht zu wissen, wohin sie ging, fand sie sich irgendwann auf dem noch menschenleeren Platz vor dem Edinburgh Castle wieder. Von hier konnte sie fast die ganze Stadt überblicken. Über den Dächern im Osten wurde bereits ein schmaler Streifen Rosa sichtbar. Ally kletterte auf eine Mauer, kuschelte sich in ihre Jacke und sah zu, wie die Sonne immer weiter aufstieg und die gelblichen Fassaden, die für die Stadt typisch waren, zum Leuchten brachte. Ganz langsam erwachte die Stadt unter ihr zum Leben. Was konnte es schon Schöneres geben als so einen Moment?
Kapitel 4
Wangerooge, April 2018
Klara hatte die Terrasse noch nicht ganz erreicht, da hörte sie schon laute Stimmen, Pfiffe und noch lauteres Gelächter aus dem Café. Sie beschleunigte ihre Schritte und als sie eintrat, verstummte das Gegröle schlagartig. Julia wischte gerade die Tische im Frühstücksbereich, Stina werkelte an der Kaffeemaschine und Patrick stand daneben und stützte mit seinem muskulösen Oberkörper die Wand ab.
Er stützte die Wand ab? War das Gebäude denn etwa einsturzgefährdet? Klara nahm sich vor, ihm umgehend eine wertschöpfendere Aufgabe zuzuteilen. Zuvor musste sie hier aber einiges klarstellen.
„Guten Morgen! Ich hoffe, ich störe nicht?“ Klara musste gar nicht laut sprechen, um Autorität auszustrahlen. Augenblicklich schienen Stina, Julia und Patrick den Atem anzuhalten. Die drei waren Anfang zwanzig und wollten hier für ein paar Monate jobben, bevor das Studium losging. Die Betonung lag hier ganz klar auf „wollten“, denn die Abbrecherquote bei solchen studentischen Aushilfen war recht hoch. Vielen wurde Wangerooge nach einigen Wochen schnell zu klein. Insel war eben nicht für jeden etwas, genauso wenig wie Klaras Anforderungen.
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