
gekommen sind. Der orthodoxe Priester, - das Totenritual. Die schreiende Frau im Hintergrund ist die Ehefrau des gefallenen Soldaten.
Für den sechsten Januar hatten die eingekesselten Regierungstruppen eine Offensive gegen die Putschisten geplant. Dafür standen noch dreihundert Gardisten und fünf Panzer bereit. Um weiteres Blutvergiessen zu vermeiden nahm Gamsachurdia in der Nacht zuvor den Befehl zurück und verliess selber durch einen versteckten Ausgang das Regierungsgebäude. Seinen Abzug habe ich leider verschlafen.
Doch sieh hier, Eduard Schewardnadse auf dem Flughafen in Tiflis. Immer wieder wurde er in Tiflis gesehen. Die Putschistenführer würden keine Chance haben, ihre Machtergreifung von irgendeinem Staat sanktioniert zu sehen, wenn Schewardnadse nicht mit im Boot sässe. Er garantiert, dass die kaukasische Variante, durch einen Putsch die Demokratie zu sichern, vom westlichen Bündnis abgesegnet wird.
Gut möglich, dass Schewardnadse in Moskau zuvor den Umsturz mit vorbereitet hat. Für meine Vermutung habe ich keinen direkten Beweis, worüber ich nicht traurig bin. Denn dies hätte meine Lage nur erschwert. Doch weiss ich, dass Gamsachurdia dem Schewardnadse schon früher ein Dorn im Auge war.
Hier eine Aufnahme von Gamsachurdia, wie er 1978 vom amerikanischen Kongress für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wird. Da lag er für die amerikanische Politik noch im Trend. - Das eine Aufnahme von James Baker, dem amerikanischen Aussenminister, der bestimmt von der politischen Rückkehr Schewardnadses nach Georgien angetan war. Demokratie hin oder her. Genauso wie sein deutscher Kollege Genscher, der sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu weitgehendem Verständnis für die Sorgen des Kremls, dem die Felle davonzuschwimmen drohen, verpflichtet sieht.

Verstehst du, Nathan! Der Westen mischt sich nicht ein, wenn sich die Russen in die Angelegenheiten der Nachbarvölker einmischen. Das ist die neue Nato-Doktrin, musst du wissen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Politik nur im Detail verwirrend, im Prinzip aber von geradezu primitiver Einfachheit ist.»
Santi stellte mit einiger Anstrengung die notwendige Ruhe in sich her, in der er Nathan vernehmen konnte. Sein Denken liess die Lebensregungen des Nussbaumes von den weissen Wurzelspitzen, die sich unter der Erdkrume mit den Mineralien unterhielten, durch den Flüssigkeitsstrom unter der Rinde hinauf bis zu den Blattspreiten, die weit oben die Lichtluft tranken, alle gleichzeitig im Geiste wirksam sein. Dann verdrängte er mit einem Schlag das ganze Vorstellungsgemälde. Wie einen fetten Blattbüschelkranz des Löwenzahns riss er es aus seinem Denken, um sich allein auf das Kraftgebilde zu konzentrieren, in das sich der zuvor vergegenwärtigte Baumraum aufgelöst hatte. Das war sein erprobtes Mittel, um bald darauf die unverwechselbare Stimme des Baumgeistes zu vernehmen. Von allen Gestalten der als stumm geltenden Natur sprach bis heute nur dieser einzige Walnussbaum zu ihm.
An einem warmen Sonntag Ende Mai hatte er ihn zum ersten Mal gehört. Er war damals noch ein Knabe und lag in der untersten grossen Astgabelung im Schatten. Seine Beine baumelten auf beiden Seiten der lebendigen Liege hinunter, während er selbst aufwärts in die hellgrüne Kuppel träumte. Die Strahlen des Lichtes waren damit beschäftigt, die Formkraft der Blattaugen und Triebspitzen in das Quellgewebe sich öffnender Knospen umzuschmieden. Wie von ferne drang das Gebimmel der Kuhglocken an sein Ohr. Er mochte neun Jahre alt gewesen sein. Es war nicht so, dass die Baumstimme etwa aus der Rinde drang. Und es waren auch keine eingesperrten Elfchen, die aus den noch weichen, grünen Nüssen flüsterten. Auch sonst wurde der Junge nicht von Hirngespinsten überwältigt. Ganz im Gegenteil.
Zunächst sprach Nathan nicht und hatte auch noch keinen Namen. Der junge Gustavo fühlte sich von ihm nur beobachtet, wenn er aus dem Blätterdach zu ihm hinab sah. Ein grosser, ernster Baumhirte, der etwas von ihm zu wollen schien, was Santi weder als Knabe noch später als Jugendlicher verstehen konnte. Manchmal war er einfach da und schien bereits auf Gustavo zu warten, doch manchmal konnte er machen, was er wollte, der Baumgeist blieb unsichtbar. Es vergingen Jahre, bis Santi den Grund erkannte. In Nathans Obhut befand sich nicht nur Santis Walnussbaum, sondern er sorgte sich für alle Nussbäume in der Region. Allmählich gelang es Santi, ihn herbei zu rufen. Eines Tages stellte sich der Baumgeist selber mit Nathan vor.
Seine Erlebnisse mit Nathan begründeten Santis Naturreligion und veränderten sein Vorstellen und Handeln so, dass sie immer mehr zu seinen eigenen wurden. Allein für seine Umgebung wurde er dadurch immer unverständlicher. Zuvor hatte es ihm an Mut zu einer Religion eigener Prägung gefehlt. Er hatte das getan und gewünscht, was von ihm, wie er jeweils dachte, erwartet würde oder ganz einfach das, was die anderen auch taten und erstrebten. Wenn nun aber in den Erscheinungen der Natur geistige Wesen tätig sind, so wird das im Menschenreich nicht anders ein, sagte er sich. Er hatte den Erlebnissen und Erkenntnissen, die er im Gespräch mit Nathan gewann, den Vorzug vor seinen angelesenen Kenntnissen über Gasstoffwechsel, Biosynthese, Lipide und die nussspezfischen Gerbsäuren gegeben. Dasjenige, worüber die botanischen Erkenntnisse Aufschluss gaben, war für ihn allmählich immer unwirklicher geworden.
Um auf Nathan zurückzukommen: Er warf Santi tatsächlich vor, dass er in Georgien keine Bäume gefilmt habe. Wenigstens auf seine mächtigen Verwandten im botanischen Garten von Tiflis - im neunzehnten Jahrhundert von einem Deutschen angepflanzt - hätte er sein Objektiv richten können. Er habe ihn doch schon früher gebeten, dass er zwischen die Bilder der Zerstörung mächtige Bäume schneiden solle. Es gibt nur ein Leben, wiederholte er immer wieder. Es ist für alle lebende Wesen dasselbe. Wenn sich Menschen damit trösten, dass jeder Krieg vorübergeht, sollten sie wissen, dass dies mit der geistigen Trägheit und der seelischen Gleichgültigkeit, die ihn nicht verhindern konnte, nicht der Fall ist. Die Menschen sollten sich angesichts der Unschuld von Bäumen, die keine Kriege führen, zu schämen erlauben. Und bevor sich die Menschen nicht bis in die Haarwurzeln über alles, was Kriege für Mensch und Natur bedeuten, schämen könnten, würden sie immer wieder ausbrechen. Wie Geschwüre.
Die um Objektivität bemühte Information über einen Kriegsverlauf sei eine soziale Krankheit mehr. Sie befördere die passive Abstumpfung und die Selbsttröstung, dass man für diesen Krieg keine Verantwortung trage und den Betroffenen ohnehin nicht helfen könne, auch wenn sich einige des Mitleids nicht entwöhnt haben. Aus seiner Perspektive hatte Nathan natürlich Recht. Seine "bäumigen" Antworten verband er abschliessend immer mit dem Hinweis, darüber im Grunde nichts zu verstehen. Er schien sich, im Unterschied zu Menschen, der Grenzen seiner Weisheit sehr bewusst zu sein.
Anstelle der Soldaten, die von den Ladeflächen der Militärlastwagen mit ihren Kalaschnikows in den Armen hinunter grinsten, hätte Santi im umstrittenen Kriegsgebiet besser die still ragenden Bäume gefilmt. Santi hatte vor Ort Nathans Ratschlag ganz einfach vergessen. Jetzt erinnerte er sich wieder an die Waldgebiete, durch die ihn sein Fahrer gelotst hatte. Dabei hatte er für einige Stunden die zunehmende Gewalt im Lande vollkommen vergessen. Was Redaktoren der ARD über kaukasische Waldaufnahmen inmitten einer Kriegsreportage sagen würden, schien Nathan nicht zu interessieren.
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