Nun genossen sie ein vorzügliches Abendessen, bei dem sogar sie zulangte und das zarte Wachtelfleisch sowie den Reis förmlich verschlang. Allerdings mied sie die süße Buttersauce. Seltsam, dass sie plötzlich Dinge nicht mehr mochte, von denen sie vorher nie genug bekommen konnte. Sogar die Vanillecreme lehnte sie ab, die zum Dessert gereicht wurde.
„Wie wäre es mit einem Kartenspiel?“, fragte Jeanne in die Runde, nachdem fast alle ihr Besteck abgelegt hatten.
„Gern“, hielt sich Henriette möglichst kurz, während sie versuchte, ihrer Aufregung Herr zu werden. Was, wenn etwas schief ging? Oder wenn sich jemand verplapperte?
„Leistet Ihr uns Gesellschaft, Pierre und Philippe?“, lud Jeanne die Männer ein, bevor sich jemand Unerwünschtes anbot. Charles machte ein enttäuschtes Gesicht.
Philippe schaute verwirrt von seinem Teller hoch. „Ich?“
„Natürlich Ihr, oder nennt sich sonst noch jemand Philippe?“ Jeanne lächelte ihn freundlich an.
„Seid Ihr etwa auch damit einverstanden, dass ich mitspiele?“ Seine blaufunkelnden Augen richteten sich spöttisch auf Henriette. Vanillesauce tropfte von seinem Löffel, den er über den Teller hielt.
„Ich würde mich freuen“, bekräftigte sie.
„Seltsam“, erwiderte er von oben herab. „Bisher hatte ich eher den Eindruck, als würdet Ihr es mit mir gemeinsam in keinem Raum aushalten.“
„Wir sitzen doch gerade an einem Tisch. Wie kommt Ihr darauf?“ Dass sie ziemlich angriffslustig klang, ärgerte sie selbst. Sie war drauf und dran den Plan zu gefährden. Aber dieser Mann forderte sie regelrecht heraus.
„Na dann“, er verengte die Augen, „steht einem Kartenabend wohl nichts im Wege.“
„Wir ziehen uns ins Musikzimmer zurück, mein Sohn“, bestimmte Françoise, als wäre sie die Gastgeberin. Seitdem sie hier war, tat sie ohnehin ständig dergleichen. Der arme Duc.
„Ich muss in mein Arbeitszimmer und Liegengebliebenes aufarbeiten“, lehnte dieser prompt ab. Schweiß stand auf seiner Stirn.
„Jetzt? Du lieber Himmel, Junge, ich bin nicht ständig zu Besuch.“ Gott sei Dank! „Deswegen erwarte ich, dass du dir Zeit für mich nimmst.“ Die Großtante nahm einen Zahnstocher aus der kleinen Silberdose, hielt sich die Hand vor den Mund und stocherte darin herum.
„Ich kann nicht mein ganzes Leben umkrempeln, bloß weil du da bist.“ Der Duc zog an seinem Bartflaum.
„Bloß?“, regte sie sich auf. „Das Leben kann schneller vorbei sein als einem lieb ist. Schau dir deine Tante Lotti an. Wer weiß, wie lange sie noch hat?“ Ehrliche Anteilnahme klang anders und Henriette ahnte, dass die Großtante sie anschaute, doch sie blickte demonstrativ aus dem Fenster. Nach wie vor konnte sie nicht ohne Zorn an ihre Großmutter denken.
„Ist die italienische Luft tatsächlich gut für unsere Lungen, Monsieur Langlois?“, erkundigte sich der Duc.
„Wie meinen?“ Zerstreut blickte Pierre von einem zum anderen, als wüsste er nicht, wer die Frage gestellt hatte. Henriette sank tiefer in die weiche Goldbrokatunterlage des Stuhles.
Der Duc lächelte nachsichtig. „Vergesst es.“
„Auf eine dumme Frage gibt es eben keine Antwort“, mokierte sich Françoise.
„In dem Fall dürfte ich gar nicht mehr mit dir sprechen, Mutter.“ Lachend erhob sich der Duc und zwinkerte Henriette zu. „Oder wie Vater zu sagen pflegte: Madame Lucifer.“
„Wage es nicht noch einmal!“ Die Großtante schickte ihm einen bösen Blick hinterher, während er hinausging. „Außerdem sitzen andere hier am Tisch, die eher in die Hölle gehören würden.“ Als sie Henriette in Augenschein nahm, lief es ihr eiskalt über den Rücken. Wenn diese Frau wüsste, dass sie nunmehr sogar ein Kind von Luc erwartete! Philippe eingeschlossen, in dessen Kopf sie jetzt gerne geschaut hätte. Über wie viel war auch er im Bilde?
„Na, dann wollen wir mal.“ Jeanne legte die Serviette neben den Teller und erhob sich.
„Ich schlage vor, dass wir im Blauen Salon spielen.“ Philippe lächelte Maria an. „Und morgen machen wir zwei etwas Schönes. Vielleicht ein Versteckspiel oder ähnliches. Platz genug haben wir ja.“
Was war denn mit dem passiert?
Erfreut applaudierte die Kleine. „Au fein“, rief sie aus.
Charlottes buttriger Mund glänzte. „Reiß dich zusammen, du Gör.“ Das Haar hing stumpf an ihr herunter, die Hochfrisur löste sich langsam, aber sicher auf. Sie schwitzte erheblich und nach einigen Schritten keuchte sie sich stets die Lungen aus dem Leib. Italien wäre auch für sie eine gute Option gewesen.
Philippe schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Pierre ebenso.
„Ich werde zu Bett gehen“, ließ Henriettes Mutter verlauten. „Macht euch einen schönen Abend.“ Wie zuversichtlich sie aussah, bevor sie das Esszimmer verließ. Vermutlich hoffte sie, dass dies der Auftakt einer wunderbaren Romanze war. Ahnungslos darüber, dass sie bald Großmutter werden würde.
„Kommst du?“ Jeanne winkte Henriette zu sich und war bereits halb aus der Tür. Charles, die Großtante, Charlotte und Maria blieben zurück, als Henriette ihr folgte.
„Spielen wir Poque?“, erkundigte sich Philippe, während er ihnen die Tür zum Blauen Salon aufhielt. Das Dienstmädchen entfachte die Kerzen auf dem Kronleuchter, stellte einige Laternen auf und kümmerte sich um den Kamin.
„Ein schöner Raum.“ Jeanne blickte sich bewundernd um. Der Blaue Salon hatte es auch Henriette angetan. Vielleicht, weil er sie an Versailles erinnerte. An unbeschwerte Zeiten aus Kindertagen, sofern sie die vielen Regeln beiseiteließ.
Jeanne, Henriette und Philippe setzten sich auf die blaubemalten Stühle mit Goldeinsätzen. Der ovale Tisch war aus Walnuss. Eine Tischdecke mit Rosenborten und Silberfäden lag darauf. Eine Chaiselongue stand neben dem monströsen Kamin, der mit einer aufwendigen Malerei verziert war und vor den Fenstern hingen nachtblaue Brokatvorhänge.
Philippe öffnete die Schublade des Edelholzschrankes, der zwischen den zwei hohen Rundbogenfenstern stand, hinter denen die dunkle Nacht lag. „Wo habe ich sie denn?“ Nach kurzem Suchen zog er ein Bündel Spielkarten heraus. Dann setzte er sich zu ihnen. Im Kamin loderte ein gemütliches Feuer.
„Was für schöne Karten“, entzückte sich Jeanne, zog den Stapel zu sich und fuhr ehrfürchtig darüber. „Sie sind aus Elfenbein. Das habe ich noch nie gesehen.“
„Früher gab es nur welche aus Elfenbein.“ Philippe nahm die Karten an sich und mischte sie. „Heutzutage sind sie eine Rarität.“
„Diese sehen aber ziemlich neu aus.“ Auch Pierre schien sich dafür zu interessieren.
„Weil ich sie eigens in Auftrag gab. Im Schrank habe ich jedoch einige uralte Kostbarkeiten. Meine Mutter spielte leidenschaftlich gern und sammelte die Karten. Sie gehören zu den wenigen Dingen, die mir von ihr geblieben sind.“ Der traurige Zug um seinen Mund hatte etwas Rührendes.
Rührend? Du lieber Gott, vernebelte eine Schwangerschaft auch die Sinne? Philippe verstellte sich doch nur. Wehe, sobald ihm wieder etwas gegen den Strich ging!
Hektisch blickte Henriette auf die Wanduhr. Es war erst acht. Bis alle im Bett waren, mussten sie durchhalten. Sie hatte schon jetzt Mühe wach zu bleiben. Doch während des Spiels schien die Trägheit wie weggeblasen. Eigentlich hatten sie vereinbart, Philippe gewinnen zu lassen, um ihn einige Stunden bei Laune zu halten. Aber das war unnötig. Er spielte gekonnt und strategisch, was den Kampfgeist aller anderen weckte. Leider verloren sie ein Spiel nach dem anderen und Münze um Münze wanderte in seine Hände. Sie nahmen sich kaum Zeit, den Chablis zu trinken, den Philippe zwischendurch beim Dienstmädchen geordert hatte.
„Ihr beobachtet ständig unsere Augen und Hände“, stellte Jeanne um Viertel vor elf fest.
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