„Sie ist meine Freundin, die Frage stellt sich nicht. Ferner bringen uns diese Spekulationen ohnehin keinen Schritt weiter. Überleg dir lieber einen Plan, wie wir Philippe das Kind unterjubeln können.“
Er schaute sie an, als hätte sie den Verstand verloren. „Wie denn? Soll ich ihn niederschlagen, ins Bett verfrachten und die nackte Henriette dazu legen, die ihm am nächsten Tag versichert, dass sie die schönste Nacht ihres Lebens hatte?“
Jeanne klatschte begeistert in die Hände und sprang hoch. „Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann! Wo ist deine Arzttasche?“ Suchend blickte sie sich um und erspähte sie unter dem Walnusstisch. Schnell beförderte sie die Tasche auf das Bett und öffnete sie.
„Das war ein Witz!“, stellte er klar. „Und das ist meine Arzttasche.“ Pierre wollte danach greifen, doch sie rückte ein Stück von ihm weg. „Was suchst du überhaupt?“
„Schlafpulver. Ihn niederzuschlagen wäre zu hart.“
„Du willst Philippe tatsächlich hereinlegen?“ Sie nickte und schlug dann beschämt die Augen nieder. Diesem Blick konnte keiner widerstehen. „Dann lass mich mal nachsehen“, gab er sich geschlagen und kam an ihre Seite. Widerstandslos überließ sie ihm die Tasche. „Wie hast du dir das überhaupt vorgestellt?“
„Ganz einfach.“ Ihre Wangen glühten, in Gedanken klopfte sie sich selbst auf die Schultern. „Wir organisieren einen Kartenabend. Nur du, Henriette, Philippe und ich. Bei dieser Gelegenheit mischen wir das Schlafpulver in sein Getränk. Ehe wir uns versehen, schläft er ein. Danach halten wir uns an deinen Vorschlag. Ab ins Bett mit ihm und am Morgen wacht er neben der nackten Henriette auf.“
„Und weil er sich an nichts erinnern kann, fällt er sofort über sie her, weil er die vermeintliche Liebesnacht in vollem Bewusstsein erleben möchte. Was für ein …“ Er verstummte und machte eine hilflose Geste. „Sag einfach Bescheid, wann das Ganze über die Bühne gehen soll.“
Jeanne legte ihm die Hand auf den Rücken. „Ich weiß, wie schwer dir das fällt. Du bist ein aufrechter Mann. Noch dazu liebst du Henriette von Herzen. Umso mehr bin ich davon überzeugt, dass du ihr sogar helfen würdest, wären Luc und sie tatsächlich Geschwister.
„Schwachsinn“, winkte er ab. „Ich tue es um unserer Freundschaft willen, nicht für sie. Obwohl ich zunehmend verblüfft bin, zu welchen Mitteln du greifst, wenn du etwas willst.“
Sein Vorwurf überraschte und verletzte sie gleichzeitig, vor allem da seine Kritik berechtigt war. In jeder Beziehung. „Du tust es ebenso für Henriette“, überspielte sie ihre Gefühle. „Als Louis und sie Étiolles verlassen haben, wolltest du ihr nach dem ersten Schreck hinterherreiten, um ihr zu helfen. Zu diesem Zeitpunkt kanntest du die Wahrheit noch gar nicht.“
„Was ändert das schon, du hast mich ohnehin zurückgehalten.“
„Weil sie mit keinem Mann glücklich wäre und unabhängig von Luc: Henriette ist eine Prinzessin. Du hättest so oder so keine Chance gehabt.“ Jeanne strich sich eine Locke zurück.
„Das ist mir klar, aber diesen Punkt kann ich wenigstens nachvollziehen. Beim Rest fällt es mir schwer und auch deine Rolle in dem Ganzen ist mir suspekt. Einerseits hilfst du ihr, andererseits trägst du Mitschuld an dem Dilemma, das du mit wenigen Sätzen aus der Welt schaffen könntest.“
Niedergeschlagen betrachtete Jeanne ihre rechte Hand. Der weiße Streifen am Ringfinger war beinahe verblasst. Vor einem Monat hatte sie den Ehering abgelegt. „Glaub mir, es vergeht kein Tag, an dem ich mir das nicht vor Augen halte. Ich liebe Henriette wie eine Schwester und würde alles für sie tun. Doch das, wonach sie sich am meisten sehnt, nehme ich ihr. Ob sie mir je verzeihen kann, ist fraglich.“
„Und deine irrwitzigen Pläne sind es wert, dass du das alles aufgibst? Charles und Henriette lieben dich aus tiefstem Herzen. Aber ausgerechnet sie opferst du für ein Vorhaben, von dem du nicht einmal weißt, ob es überhaupt gelingt.“
„Ich will nichts beschönigen. Henriette bewundert mich für meinen Mut, ohne zu wissen, wie feige ich bin. In Wirklichkeit ist sie die Stärkere, denn sie würde keine Sekunde zögern und mir die Wahrheit sagen, wäre sie an meiner Stelle. Auch wenn es bedeuten würde, dass sie damit ihre eigene Zukunft zerstört.“
„Da wunderst du dich, dass ich mich unsterblich in sie verliebt habe.“ Pierre zog ein säuerliches Gesicht. „Ich hoffe, dass das kein böses Erwachen für dich gibt, Jeanne.“
„Immerhin bin ich für Henriette da und stehe ihr bei, wann immer sie mich braucht.“
„Das macht es nicht besser.“
„Aber sobald ich an Ludwigs Seite bin, werde ich ihr die Wahrheit sagen.“
„Bis dahin ist sie eine verheiratete Frau und zieht heimlich Lucs Kind auf.“
„Wozu gibt es Scheidungen?“
„Du legst dir alles so zurecht, wie du es brauchst. Bist du eigentlich je auf den Gedanken gekommen, dass es für die Wahrheit irgendwann zu spät sein könnte? Was, wenn Luc an der Front fällt? Oder Henriette etwas zustößt? Was, wenn du es ihr sagst, aber Luc nichts mehr von ihr wissen will, weil er sich einer anderen zugewendet hat? Oder es ist umgekehrt. Dreh und wende es wie du möchtest, doch Henriette wird dir nie verzeihen. Ich könnte es auch nicht.“
„Sei nicht so pessimistisch. Es wird sich alles fügen.“
„Ich wünsche es dir.“ Er suchte ihren Blick. „Das tu ich wirklich.“ Pierre setzte sich neben die Arzttasche. „Und jetzt würde ich gerne alleine sein.“
„Natürlich.“ Leise verließ sie sein Zimmer und während sie durch die Gänge eilte, dachte sie an seine Worte. Nie zuvor hatte er so offen mit ihr gesprochen. Seine Meinung traf sie tief, obwohl er in jeder Beziehung recht hatte.
Als sie ihr Schlafzimmer betrat, lag Charles bereits im Bett. Einige Kerzen brannten auf der Kommode neben dem Spiegeltisch, vor den sie sich müde hinsetzte. Sich selbst zu betrachten schmerzte plötzlich und sie dachte an ihre Kindheit. An die Ängste und die Einsamkeit. Die Sehnsucht nach dem Vater und den Tag, als Henriette ihr zum ersten Mal begegnet war. Ein Mensch, wie sie ihn nie wieder finden würde.
Seufzend schaute Jeanne zu Charles. Im nächsten Moment holte sie ein Taschentuch aus ihrem Dekolleté, schlich zur Tür und legte das Tuch davor nieder. Hoffentlich kannten die Zofen die Bedeutung dieser Geste … aber sie brauchte jetzt Liebe und Zärtlichkeit. Die Bestätigung, kein abgrundtief schlechter Mensch zu sein und das Wissen, dass sie geliebt wurde.
Als sie sich ausgezogen hatte, schlüpfte sie nackt unter die Decke. Mit der Hand tastete sie über Charles’ warmen Körper. Er öffnete die Augen, zog sie an sich und dann ließen sie ihren Gefühlen freien Lauf. Heute Nacht wollte sie ihm alles geben, das sie zu geben vermochte, denn es musste für sein ganzes restliches Leben reichen.
Strasbourg
Unschlüssig stand Luc vor dem zweistöckigen Haus mit den schmückenden Andreaskreuzen und Reliefs im Fachwerk. Bereits zweimal hatte er an das grüne Portal geklopft, doch niemand öffnete ihm. Ob er sich irrte und Hermann in einem der Nebengebäude wohnte?
Luc trat einige Schritte zurück und blickte über die Fassade. Dabei rieb er seine Hände aneinander, weil ihm eiskalt war. Bereits jetzt am frühen Nachmittag klirrte die Luft vor Kälte und hinter ihm lag eine regelrechte Tortur, seitdem er Paris verlassen hatte. Nicht nur mental.
Für den Weg hatte er aufgrund der frostigen Temperaturen fast doppelt so lange gebraucht, da er die meisten Nächte in Gaststätten verbracht hatte. Es war nicht immer einfach gewesen, eine zu finden, noch dazu mit einem Stall für seinen Araber. Aber sonst wären sie vermutlich erfroren.
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