Ein anderes, beeindruckenderes Beispiel war Lutz, ein Cousin von Judith. Lutz hatte auch irgendwann begonnen, in Konstanz Deutsch für Ausländer zu unterrichten, weil er sich nicht damit abfinden konnte, den ganzen Tag in "irgendeinem Mischtlade zu verbringe, die einen eh nur verwurschte wellet." Er hatte in Tübingen Archäologie studiert und zog dann zum Bodensee in die Nähe von Hagenau. Dort ging er seiner Lieblingsbeschäftigung nach, auf einer unter einem Apfelbaum aufgestellten Bank zu sitzen und nachdenklich über den See zu blicken, wenn er nicht gerade in ein religionsphilosophisches Buch vertieft war oder seiner zweiten Leidenschaft frönte, dem Tüfteln und Basteln. Der Beschaulichkeit drohte ein vorläufiges Ende, als seine Freundin Marita, eine vom Ehrgeiz besessene Betriebswirtschaftlerin, Zwillinge erwartete und begann, auf Lutz Druck auszuüben, er solle gefälligst mehr arbeiten, um seiner Familie ein Häusle mit Gärtle zu ermöglichen. Lutz geriet in Panik – so hatte er sich seine Zukunft nicht vorgestellt: Der "Verwurschtungsmaschinerie" Festanstellung zu entgehen, um dann in die Krallen einer fordernden Partnerschaft zu geraten.
Judith, die sich in dieser Zeit gerade von ihrem spießigen Freund getrennt hatte, leistete ihm astrologischen Beistand, indem sie ihm einige Passagen aus den Büchern des bekannten Münchner Astrologen Döbereiner schickte, die auf Lutz eine regelrecht aufweckende Wirkung hatten.
Döbereiners Aufforderung an die Männer, den eigenen Ursprung, die eigene Originalität, sprich den Uranus zu leben auch gegen soziale Anpassungsforde-rungen, weckte in ihm den Impuls, seinen längst gehegten Traum zu realisieren – zu Fuß nach Italien über die Alpen zu wandern. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen, zog er los und monatelang wusste niemand, wo er abgeblieben war. Er hielt sich in Tessiner Bergdörfern auf, half hie und da auf Bauernhöfen aus und irgendwann in dieser Zeit kam er auf eine zündende Idee, die er nach seiner Rückkehr erfolgreich realisierte. Er gründete das "Studio für experimentelle Ethik" und gestaltete ein Spiel, das sich innerhalb kürzester Zeit – nicht zuletzt wegen der heftigen kirchlichen Proteste – zu einem Renner entwickelte. "Nagle dir deinen Herrgott selber ans Kreuz" hieß das "psychotherapeutisch autodidaktische Spiel auf dem Markt, mit dem sich jeder seiner eigenen Glaubenssätze bewusst werden konnte, die ihn an einem guten Leben hinderten". Er entwickelte mehrere Modelle, eine einfache in Sperrholz oder die luxuriöse Version aus Eichenholz und vertrieb seinen Hit über das Internet. Einige progressive Institute zählten bald zu seinen Kunden und man munkelte , dass sogar Bestellungen aus dem Vatikan eingegangen waren. Mittlerweile saß Lutz wieder mindestens den halben Tag auf seiner Lieblings-bank und blickte lächelnd über den Bodensee, während er den anderen halben Tag Bestellungen aufnahm.
Und wo ist mein Uranus, mein geniales Einfallspotential? Dieser Obermacho von Döbereiner bestritt doch glatt, dass Frauen ein solches Potential überhaupt hatten! In diese Gedanken verloren raste Judith mit dem Fahrrad fast in eine Absperrung gegenüber der Post am Max-Joseph- Platz, die neben einem früheren Telefonhäuschen angebracht war. Statt des Telefonhäuschens ragte jetzt eine sterile, unbedachte Säule mit Telefonmöglichkeit in den regenschwangeren Himmel. Verduzt nahm Judith das neue Telekom-Event in Augenschein. Das gibt´s ja nicht! Bei Ron Sommer scheint es nie Winter zu werden. Klar, bei diesem Gehalt wär ich im Winter auch nicht im nasskalten Deutschland. Mit viel Geld werden dringend benötigte Telefonzellen abgebaut, um dann wiederum mit dem Geld der Telekomaktionäre diese unpraktischen Säulen aufzubauen. Auch eine Geschäftsidee- zur Anheizung des Handykonsums!
Übersetzung des italienischen Teils:
"Sprechen wir lieber Italienisch. Nach drei Stunden Deutschunterricht brauche ich eine Ruhepause. Übrigens, könnten Sie mir ein Männerbekleidungsgeschäft empfehlen? Ich brauche einen eleganten Anzug."(1)
"Gehen Sie zu "All about Adams" in der Klenzestraße. Vielleicht ist das Geschäft etwas extravagant, aber probieren Sie´s einfach !"(2)
Downton
In diese Gedanken versunken radelte Judith über den Marienplatz und blieb in einem Pulk hängen. Hier demonstrierten etwa 40 Schwule und Lesben in dunklen Anzügen vor dem Rathaus. Auf Schildern waren Slogans wie "Schwarze Politik verhindert Rosa Liebe" zu lesen. Sie wollten damit ihrem Eilantrag Nachdruck verleihen, den sie beim Bundesverfassungsgericht gestellt hatten.
"Ja, Horst, na so was?! Der Kollege vom Lessing Kolleg, auch unterwegs ? “
Der sonst eher blasse und zurückhaltende Horst schrie aufgebracht im Chor: "Alle dürfen, nur wir nicht."
Judith unterbrach ihn lachend. "Zahl du bei unserem tollen Stundenlohn erst mal Unterhalt nach einer Scheidung – spätestens dann findest du die Legalisierung auch nicht mehr so toll !”
“Mensch Judith, alles eine Frage des Vertrags! Und Alimente fallen eh weg.”
Hinter dem Alten Rathaus hatte sie endlich freie Fahrt Richtung Viktualienmarkt, auf dem sie noch ihre Gemüseration besorgen wollte. Anfangs konnte sie diesem berühmten Flecken im Herzen von München nicht so viel abgewinnen und musste ausnahmsweise dem Lokalpatriotismus ihrer badischen Landsleute Recht geben: Was war schon dieser Marktflecken im Vergleich zur mittelalterli-chen Atmosphäre des Freiburger Münsterplatzes . Auch rein preislich gesehen lagen Welten dazwischen. Auf der einen Münsterplatzseite waren viele Bauern-stände aus dem Freiburger Umland, bei denen man günstig die benötigten Waren erstehen konnte. Der Viktualienmarkt hingegen- die reinste Apotheke! Alteingesessene bayerische Händler behaupteten über Generationen ihre Stellung und raunzten oft dementsprechend barsch die Kunden an.
“Den lassen´s fei liegn!”, wurde Judith einmal angegangen, als sie einen Apfel kritisch befühlte. Ohne Kommentar war sie damals einfach weitergeschlendert
und hatte schließlich einen niederbayerischen Gemüse- und Obsthändler entdeckt. Seine zuvorkommende Schlagfertigkeit und humane Preispolitik hatten sie davon überzeugt, dass selbst auf dem Viktualienmarkt das Einkaufen Spaß machen konnte. Auch heute kaufte sie dort wieder ein Kilo niederbayerischer Äpfel und bekam obendrein noch 3 Karotten geschenkt.
"Mensch Judith, kaufst du hier auch ein?” Hinter ihr stand Johanna, eine Kollegin aus dem Lessing Kolleg.
“Kommst du heute abend zur Aktion Butterbrot ?”
“Heute kann ich leider nicht. Ich ruf dich morgen an, um zu hören, wie es gelaufen ist.".
Die Aktion Butterbrot nahm sich der inzwischen bedrohlichen Situation für freiberufliche Lehrer an. Um die marode Rentenkasse zu füllen, hatte die Bundesregierung ein verstaubtes Gesetz aus dem Jahr 1913 ausgegraben, laut dem Hebammen, Boxer, Seelotsen und eben auch freiberufliche Lehrer rentenversicherungspflichtig sind. Dieses Gesetz löste bei vielen Sprachinstituten und bei allen freiberuflichen Lehrern Panik aus. Bedeutete es doch nichts anderes als den existenziellen Kollaps. Wie sollte man bei den eher mageren Stundenhonoraren zusätzlich Hunderte von Mark monatlich berappen, um Jahrzehnte später eine sowieso geringe und aller Voraussicht nach ungesicherte Rente zu erhalten? Judith kochte jedesmal, wenn sie an diese Ungerechtigkeit dachte .
Andere verschleudern Milliarden und werden dafür mit Millionenabfindungen belohnt, unsereins schuftet redlich und wird ausgepresst. Durchgeknallte Modells lassen sich in Besenkammern schwängern und haben ausgesorgt, während ich noch abends unbezahlten Vorbereitungsdienst schiebe. Irgendwie stimmt was nicht! Ein Arm schob sich vor ihr Fahrrad und hielt ihr einen Zettel vor die Nase:
“Schrannenhalle – Münchens neues Millionenloch. Bürgerbegehren formieren, Politiker attackieren!”
Читать дальше