Ich kam also über Bremerhaven mit dem Schiff aus Übersee an, wechselte in den Zug nach Hamburg, ließ mein mageres Gepäck von einem Bahnhofsburschen verstauen, setzte mich auf meinen Platz am Fenster, versteckte mich hinter einer Zeitung, und schon verließ die Lok samt Reise- und Gepäckwagen, im Dampf eingehüllt, gespenstisch wirkend, den Bahnhof. Ich saß allein in meinem Abteil, allein mit meinen Gedanken an Amerika, an Melanie und an meinen erst kürzlich verstorbenen Vater, der nun in amerikanischer Erde ruhte, weil er es so in seinem Testament bestimmt hatte. Meine Mutter war auch in Amerika geblieben, sie hatte Angst gehabt den Boden der Heimat, erneut, nach all den vielen Jahren, zu betreten. Und Melanie? Sie hatte geheiratet und war glücklich. Sie verzichtete ebenfalls auf eine Konfrontation mit Dingen in denen sie verwurzelt war, sie scheute zwar nicht das Land ihrer Herkunft, aber ihre Neugier, die hielt sich in privaten und überschaubaren Grenzen. Sie hatte sich schon zu sehr von dem „Sein“ und dem „Wesen“ des Deutschen entfremdet, Melanie hatte alles Deutsche abgelegt, mit Ausnahme der Kunst und der Kultur, welcher sie, nach wie vor, sehr zusprach. Ich weiß nicht, was „mich“ so dermaßen an meiner Heimat faszinierte, dass ich der Einzige unserer Familie war der nach Hamburg zurückkehrte, aber ich vermisste unser altes Haus, unseren kleinen Garten, meine Freunde, die Nachbarn, die Stadt, den Hafen und natürlich unser Hausmädchen - Frau Lorenz. Wie war es ihr ergangen während des Krieges? Lebte sie überhaupt noch? Ich hatte sie immer so sehr gemocht, fast schon geliebt; sie war die Seele unseres Hauses in Hamburg gewesen, ohne sie lief gar nichts, als die Welt, in Europa, noch in Ordnung war. Mein Vater hatte ihr seinerzeit das Haus, per Telegramm, übereignet, es muss für „Carina“, denn so hieß Frau Lorenz mit Vornamen, eine schöne Überraschung gewesen sein, plötzlich, aus den bekannten Gründen, Besitzerin einer Villa in Nienstedten zu sein - wenn auch nur im begrenzten Rahmen, denn wir alle rechneten damals mit einer baldigen Rückkehr nach Deutschland, besonders natürlich mein Vater, der sehr an seiner Stadt hing. Für ihn war es ein unerfüllter Traum geblieben durch den Krieg, aber wie dem auch sei, ich war nun, stellvertretend für ihn, derjenige der alles in Augenschein nehmen musste, nicht nur aus der von mir bereits erwähnten Neugier, nein, ich machte mir um so vieles Sorgen, vielleicht unbegründet, vielleicht eher aus der verträumten Sicht eines Deutschen: Der mittlerweile einen amerikanischen Akzent hatte, welchen er nur allzu gerne „ganz“ verborgen hätte, aber wer kann schon über seinen Schatten springen? Dennoch gab ich mir während der Zugfahrt, als bei einem Zwischenhalt Fahrgäste mein Abteil betraten, die allergrößte Mühe, so deutsch, wie nur irgend möglich zu wirken. Ich grüßte also höflich, und das Ehepaar erwiderte meinen Gruß kopfnickend während sie sich schweigend niedersetzen. Ja, und ohne weitere Worte zu wechseln, vergrub ich mein Gesicht erneut hinter der Zeitung, die mir Halt und Sicherheit gab.
Es mag dumm und als nicht-notwendig erscheinen, dass ich mich derartig verhielt, trotzdem, mir schauderte davor, dass irgendjemand mich darauf ansprechen könnte: Wie ich den Krieg überlebt habe? Warum ich „keine“ Kriegsverletzung habe? Usw. Oh ja, es war eine makabere Situation, es war in jeder Hinsicht schwer für mich und für andere die richtigen Worte in so einem Moment zu finden - würde ich in eine solche Verlegenheit geraten. Höchstens Frau Carina Lorenz, sofern sie meinem Vater noch keine Gesellschaft im unendlichen Himmelreich geleistet hatte, könnte für meine zwiespältige Lage Verständnis aufbringen. Der Briefkontakt mit ihr war vor genau einem Jahr abgerissen, eine sinnvolle Erklärung dafür gab es nicht. Wir hatten den Briefwechsel mit ihr vorwiegend auf die traditionellen Feierlichkeiten wie: Weihnachten und Ostern, Geburtstag und Namenstag gerichtet; nicht aus Faulheit, sondern wir wollten ihr (Carina) keine Schwierigkeiten bereiten während des Krieges, weil Post aus Amerika, eventuell als Spionagetätigkeit ausgelegt werden konnte, obwohl dem natürlich nicht so war. Ja, an alle diese Dinge musste ich so denken, während mich die Eisenbahn Richtung Hamburg fuhr, und mich wohl auch in sich behütete, wegen der Kälte, die absolut extrem war. Das Ehepaar gegenüber unterhielt sich sehr leise, dennoch konnte ich, ob ich nun wollte oder nicht, das ein- oder andere Wort aufschnappen. Alle beide sahen sehr mitgenommen aus, er erzählte von seinen Kriegserlebnissen: Von dem Grauen der Front, von Panzern, von Bombenkratern, von, mit Maschinengewehren ausgerüsteten Doppeldeckern die einen gezielt beschossen hatten, von Granaten die durch ihre Splitter- und ihre immense Druckeinwirkung den kämpfenden Soldaten ganze Gliedmaßen abgerissen hatten, oder auch gleich den Tod herbeiführten. Nach seinen Erzählungen hatte er die Kriegsgefangenschaft zwar überlebt, und er war auch dem lieben Gott dankbar dafür, aber er, und nicht nur er, hatte seine „Ehre“ verloren, die ihm einst so viel bedeutet hatte, als er im Fahnenmeer losgezogen war, um einen unabdingbaren Krieg zu führen, den ihm sein Kaiser einst schmackhaft gemacht hatte.
Während er das so erzählte, mit schwacher, kaum verständlicher Stimme weinte er, und er schämte sich seiner Tränen nicht. Sie, seine Ehefrau, drückte ihn daraufhin an sich, schloss mit ihm die Augen, nahm seine Hand und sprach ihm Mut zu, um das Erlebte zu vergessen, zu verarbeiten, sofern das überhaupt möglich war für einen Kriegsheimkehrer, der dermaßen an dem Verlust der „Ehre“ litt. Ich konnte diese Gefühle nicht teilen, sie waren mir fremd und abwegig; sicherlich wurde auch bei uns immer kräftig gefeiert, wenn der Kaiser, vor dem Krieg, auf Durchreise in Hamburg war, aber, „Ehre“ strahlte der Mann auf unsere Familie nicht aus. Er wollte ja den Krieg, und als er ihn verloren hatte, verzog er sich feige in die Niederlande, darum fällt es mir schwer den Mann mit dem zu kurzen Arm als „ehrenvoll“ zu empfinden. Unsere eifrigen Geschichtsschreiber werden das eines Tages dementsprechend zu Papier bringen. Und während der mir gegenübersitzende Kriegsveteran wieder seine verweinten Augen öffnete, seine Ehefrau zwei Butterbrote auspackte und an zu essen fing, da sah ich auf meine Taschenuhr - noch ein paar Minuten und der Zug müsste im Hamburger Hauptbahnhof einlaufen, dann würde ich mir mein Gepäck aushändigen lassen, eine Kutsche würde mich Richtung Nienstedten fahren und ich wäre endlich wieder daheim, ach ja, „Home sweet home“.
Genauso kam es auch, nur mit dem Unterschied, dass mich ein Automobil, samt meinem Gepäck in die heimische, nur noch ein wenig vertraute, Umgebung führte. Trotz der allgemeinen Not und des Elends, des an allem Mangelnden gab es Automobile, welche die Besucher der Stadt dort hinfuhren, wohin sie wollten. Ich hatte anderes erwartet, anderes gehört, dennoch war ich angenehm überrascht; denn wer schon einmal mit einer offenen Pferdekutsche bei drei Grad minus gefahren ist, der weiß, was ich meine. Der Taxifahrer sprach nicht viel, er hatte sich seine Schirmmütze, die offensichtlich bewusst etwas zu groß gekauft worden war, tief über die Stirn ins Gesicht gezogen, seine Lederjacke roch nach altem Fett, und zwischen den Zähnen spielte er mit dem Rest von einem Zahnstocher herum. Er fragte mich ob ich aus Hamburg sei, und ob ich Arbeit hätte, ich bejahte beides. „Es ist gut in diesen schlechten Zeiten Arbeit zu haben, denn wer jetzt auf der Strecke bleibt, der kriegt seinen Arsch niemals wieder hoch,“ sagte er zu mir, und behielt dabei seinen Blick auf der Straße. Ja, er hatte recht. Er war wohl „vor“ dem Krieg auch etwas anderes gewesen, und trotz seiner schmuddeligen Art, seiner Ausdünstung, die von seiner Jacke ausging, war an ihm, anscheinend, der Krieg, spurlos vorbei gegangen; ich kann das nicht erklären, es war nur so eine Art von Eingebung in dem Moment, als er mir während der Fahrt durch seine enorme Ruhe und seine Ausgeglichenheit, diesen Eindruck vermittelte, es war merkwürdig!
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