Bei der Styx! Leto schnürte es den Hals zu. Wenn ein Unsterblicher bei dem grausen Unterweltfluss schwor und den Schwur brach, musste er ihn überqueren – und sein ewiges Leben aufgeben, um auf immer als Schatten durch das Totenreich zu streifen und der Vergessenheit anheim zu fallen. Der Schwur bei der Styx war der einzige, der nie gebrochen wurde.
Wenn Leto in den letzten schrecklichen Minuten angenommen hatte, dass Zeus ihren Vater vielleicht begnadigen könnte, war diese Hoffnung jetzt dahin.
Sie musste Koios von seinem tödlichen Plan abbringen.
„Vater, kannst du nicht doch noch einmal überlegen, ob du Kronos so viel schuldest, dass du dein Leben für ihn aufgeben willst?“
Koios hielt inne und bedachte seine Älteste mit einem Blick, der sie vor Schreck zurücktaumeln ließ. Wut schwang darin mit und – was war das, das Bewusstsein von Schuld? Als er sah, wie Leto reagierte, hob er entschuldigend die Hand, kam um den Tisch herum und fasste sie an beiden Oberarmen.
„Ich habe es nicht so genau erklären wollen, aber ja, ich schulde Kronos so viel. Mehr als das. Ich habe sein Leben auf dem Gewissen. Oder seinen Geist, wie auch immer du es nennen möchtest.
Als wir gefangen waren und Gaia uns die Sichel mit dem Eschenholzgriff anbot, mit der Uranos gestürzt werden sollte, hat sie sich als Letztes an Kronos gewandt. Jeden einzelnen von uns anderen hat sie zuvor gefragt, denn Kronos war der Jüngste von uns. Er war noch nicht einmal erwachsen! Keiner von uns hat es über das Herz gebracht, teils, weil wir Skrupel hatten, teils aber auch, weil wir einfach Angst hatten, Angst vor Uranos, vor einem möglichen Versagen und seiner Rache. Dadurch, dass wir uns gedrückt haben, haben wir eine fürchterliche Sünde auf Kronos geladen. Auch er war nicht von Geburt an böse oder seltsam, aber was glaubst du, was eine solche Tat in einem jungen Gemüt für Spuren hinterlassen muss? Wir haben ihn durch Unterlassen zu dem gemacht, was er ist – und jetzt, nach so langer Zeit des Schuldgefühls, bittet er um meine Anwesenheit. Nicht nur, dass ich ihm unsere Befreiung zumindest im Ansatz vergelten kann, ich bekomme endlich auch eine Gelegenheit, mein Gewissen zu erleichtern. Nein, Leto, was du auch sagst, ich werde gehen. Ich muss.“
Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn.
„Gib deinem jungen Mann nicht die Schuld. Als all das angefangen hat, was jetzt ein Ende finden wird, existierte noch nicht einmal die Idee von ihm.“
Er wandte sich um und griff nach dem Beutel, den er gepackt hatte. Im selben Moment erhob Phoibe sich schwankend, aber ihre Stimme klang fest.
„Ich komme mit dir.“
Sie schnitt Koios mit einer bestimmten Handbewegung das Wort ab, als er nach einer Schrecksekunde scharf protestieren wollte.
„Sag nichts. Ich war mit dir im Kerker, ich habe die Sichel auch nicht genommen. Die Schuld, von der du gesprochen hast, ist ebenso gut auch die meine. Außerdem würde ich lieber die Ewigkeit mit dir im Tartaros verbringen als ohne dich hier, wo wir zusammen glücklich gewesen sind.“
Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er nahm sie, um sie an seine Lippen zu ziehen. Wortlos schauten sie sich an, dann küssten sie ihre Töchter und ihre Enkelin und verließen das Haus. Leto blickte ihnen wie versteinert nach, als sie langsam in der Ferne verschwanden, die Arme umeinander gelegt, als wollten sie sich gegenseitig stützen.
Als Leto sich schließlich umdrehen konnte, schaute sie direkt in Asterias Gesicht, die ihren Blick einige Sekunden lang erwiderte und sich dann abwandte, um mit langen Schritten das Zimmer zu verlassen.
Hekate rief vom Boden aus: „In den Tartaros auf alle Ewigkeit!“
Eine der Puppen war von ihrem Berg gestürzt, die andere triumphierte.
In dem Haus, das Leto mit Asteria und Hekate teilte, war es still und traurig geworden. Asteria gab Leto zumindest zum Teil Schuld am Verlust ihrer Eltern, was ihr Verhältnis empfindlich trübte. Waren die beiden früher zwar unterschiedlich gewesen, sich aber in einer etwas sorglosen Weise dennoch herzlich zugetan, glichen sie heute eher oberflächlich Bekannten, die zufällig das Haus miteinander teilten. Leto litt sehr darunter, war sie doch von jeher harmoniebedürftiger als ihre Schwester.
In Ermangelung anderer Gesellschaft schloss sie sich ausgerechnet ihrer wenig geliebten Nichte an. Hekate war zwar eine durch und durch kühle kleine Person, aber sie verurteilte ihre Tante nicht, weil sie wusste, dass diese keine Schuld traf.
Leto selbst versuchte, ihr Unbehagen zu unterdrücken und fand erstaunt heraus, dass ihre Nichte nicht weltabgewandt war, wie sie gedacht hatte, sondern vielmehr äußerst pragmatisch. Das Kind wirkte nur manchmal so fern, weil es sich auch mit der unsichtbaren Realität beschäftigte, den Mond konsultierte, den Toten Fragen stellte und Visionen nachhing, die ihm von fernen Geschehnissen berichteten. Was es dabei herausfand, münzte es direkt um in praktische Ratschläge, die genauso gut die Olivenernte wie die Pflege kranker Menschen betreffen konnten.
Als Hekate gerade sieben Jahre alt geworden war, wurde Leto, als sie Gemüse für das Abendessen putzte, auf das Spiel des Mädchens mit ihren Puppen aufmerksam. Zwei von ihnen wurden von den kleinen Händen aneinander gedrückt, was Hekate mit Kussgeräuschen begleitete.
Leto lächelte.
„Na, was spielst du denn da?“
Hekate blickte ernst auf.
„Das sind du und Zeus.“
Leto wurde mulmig. Was hatte das Mädchen noch mitbekommen, als Zeus kurz vor Kriegsbeginn da gewesen war?
„Nachher“, erklärte ihr die gleichmütige Stimme vom Boden.
„Er kommt heute, weißt du.“
Der Mond war gerade aufgegangen, als Leto vor das Haus trat, um zu warten. Diesmal hatte sie sich vorbereiten können: Sie hatte gebadet, Stunden mit ihren Haaren vertändelt und sich drei Mal umgezogen. In ihrem Zimmer wartete ein Imbiss, und sie fühlte sich keinen Tag älter als vierzehn.
Nur wenige Minuten waren vergangen, als sie das Geräusch von Schritten auf dem Weg hörte. Sie konnte nicht mehr still stehen, lief los und warf sich dem überraschten Zeus direkt in die Arme.
Geraume Zeit verstrich, in der sie sich nur festhielten, als wollten sie sich nie wieder loslassen. Als die Streicheleinheiten sich jedoch subtil zu verändern begannen und Leto merkte, wie sehnsüchtig ihr Körper reagierte, zog sie wie vor eineinhalb Jahren Zeus schnell mit ins Haus.
Diesmal war es anders als früher, ihre gemeinsame Zeit war so kurz gewesen und die Trennung so lang, dass sie sich neu entdecken mussten. Im Kerzenschein, der ihr Zimmer erhellte, erschrak Leto außerdem über die Furchen und Falten, die die Sorgen der ersten Kriegszeit in Zeus‘ Gesicht gegraben hatten.
Ihre Küsse wurden um einiges sanfter, ihre Hände bewegten sich vorsichtiger und liebevoller, als versuchten sie, alle seine Sorgen fort zu streicheln. Zeus legte den Kopf in den Nacken und blickte sie einen Moment lang nachdenklich an, doch ehe sie fragen konnte, was er habe, küsste er sie wieder, diesmal mit allem Ungestüm, den er auch am ersten Tag aufgebracht hatte, um riss sie mit sich fort. Jetzt erkannte sie ihn wieder: Sein Blick brannte ebenso hell in ihren Augen wie früher, und ihre Haut begrüßte die vertrauten Finger. Unwillkürlich drängte sich ihr Becken ihm entgegen, und er nahm die Einladung gern an. Er schloss sie in die Arme, als wollte er sie nie wieder loslassen, verhakte seine Beine mit den ihren und wurde eins mit ihr, wie sie es so oft geträumt hatte, seit er gegangen war.
Erst viel später, als sie wieder zu Atem und Worten kamen, zeichnete er ihre Lippen mit den Fingerspitzen nach und sagte: „Also, erzähl. Wie schlimm ist es?“
Obwohl sie es sich denken konnte, fragte sie: „Was meinst du?“
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