Um halb zehn schließt sie die Wohnungstür hinter sich, während ich die Klappe der Spülmaschine zudrücke. Ein großes, synchrones Geräusch, danach ist es still.
In meinem Zimmer öffne ich die Balkontür. Heute regnet es leisen, kontinuierlichen Dschungelregen. Man hört jeden einzelnen Tropfen von einem großen Blatt aufs nächste fallen. Bananenstauden, Feigenbäume und Palmen produzieren diesen besonderen Sound. Im Zoo ist es still. Als hätte man dort nur auf eine kurze Zwangspause gewartet. Ich fahre den Rechner hoch, bemühe die Suchmaschine. Tippe ein paar Schlagworte ein, die mich klüger machen, mir einen Überblick über potenzielle Berufsziele geben sollen. Ich finde einige interessante Links, lese ein paar Zeilen, drucke dann die Texte aus. Werde das später in Ruhe durcharbeiten. Nach einer halben Stunde lasse ich erschöpft die Stirn auf die Tischkante sinken. Ein paar Sit-ups werden mich wieder frisch machen.
Auf dem großen blauen Teppich vor der offenen Balkontür strecke ich mich auf dem Rücken aus.
Der Teppich ist weich und warm – das genaue Gegenteil vom Küchenboden beim gestrigen Milchbad. Die Finger vergraben sich im Flor der Maschen. Ich erlaube mir eine Pause, lasse den Rücken tiefer in den Untergrund sinken, bis er damit verschmilzt und ich die Grenze zwischen beidem nicht mehr spüren kann. ... Sit-ups .... Die Augen starren leer zur weißen Decke. Kein Muskel in meinen Gliedern ist mehr aktiv, Gefühl ist nur noch im Brustkorb, dort wo das Herz und die Lungen pumpen, flach zwar nur, aber spürbar. In mir ist es so still, dass ich draußen jeden einzelnen Tropfen aufprallen hören kann. Eine Weile liege ich so da, tue nichts, gebe mich nur dem Lärm hin, den der Regen verursacht.
Aber dann: Sit-ups. Doch mein Körper ist bereits so weit runtergefahren, dass seine einzelnen Teile nicht mehr zu mobilisieren sind, vor allem, weil der Geist so überhaupt nicht daran interessiert ist.
Der Geist. Er dreht sich um sich selbst, hat sich aufgehängt in einer Schleife der Untätigkeit. Will nichts tun, will nichts denken, hört dem Regen zu, lässt die Augen nur hin und wieder zwinkern, damit sie nicht austrocknen vom Starren.
Ein Befehl wird helfen.
STELL DIE BEINE AUF!
Es passiert nichts. Ich höre, ich starre. Es tropft nun irgendwo auf ein Blech. Hohl der Ton und deutlich lauter als die anderen, störend erst, dann vereinnahmend. Höre nur noch dieses blecherne Tropfen, mein Atem fügt sich in dessen Rhythmus ein. Habe die Kontrolle vollkommen verloren. Will jetzt aufstehen, aber weiß nicht wie.
STEH JETZT AUF!
Das beschleunigt den Atem etwas, ich spüre die Kehle wieder. Aber der Impuls reicht nicht aus, um mich zu reanimieren. Die gleiche Stimme legt noch nach:
KÜMMERE DICH UM DEINE ZUKUNFT!
Daraufhin macht das Herz einen kurzen Sprung. Ich fühle den Rücken wieder und gleichzeitig kaltes Blei in den Füßen. Abwechselnd Euphorie und lähmende Depression. Aber die Intervalle sind zu kurz, um mich zu bewegen. Wie leichte Stromstöße jagen sie in Wellen durch meinen Körper.
Eine andere Stimme meldet sich nun, spricht nicht zu mir, sondern lacht mich aus. Ihr Lachen, zusätzlich lähmend, hallt nach, macht mich wieder unsäglich träge und müde.
Eine Weile kämpft es in mir, dann gebe ich auf, bleibe einfach liegen, folge weiter dem Tropfen.
Unter das Tropfen mischt sich plötzlich ein anderes Geräusch. Tapser, Schritte, tierische Krallen auf dem Parkett. Die Angst macht mich noch starrer. Mein Körper nun aus Beton. Nicht mal die Neugier bewegt mich.
Wohin will es? Die Schritte verstummen, etwas huscht nah an meinem Kopf auf dem Teppich vorbei, im Augenwinkel nehme ich kurz eine kleine Gestalt wahr. Ich will den Kopf drehen, aber es gelingt nicht, die Halswirbel sind blockiert. Dann wieder die Krallen auf dem Parkett. Das Geräusch kommt aus Richtung Balkontür. Geht es zurück? Nein, da ist noch ein zweites ... Tier! Tapser in Kopfnähe und an der Tür und dann noch mehr. Die Schritte überlagern sich. Wie viele sind es jetzt? 5, 6 oder 10? Wind kommt auf, wie ein Schwall ergießen sich die Tropfen von den Blättern alle gleichzeitig zu Boden. Ich zucke zusammen. Dann ein neues Geräusch – Papier bewegt sich durch die Luft. Nicht ein Blatt, nicht zwei – einen ganzen Stapel hat der Wind gelöst. Aber sie gleiten nicht einfach zu Boden. Sie wirbeln durch den Raum. Sie tanzen zwischen mir und dem Punkt an der Decke, an dem sich meine Augen festhalten, stören mein Starren. Die Augen flüchten ins Dunkel, schließen die Lider einfach. Schlimm genug, dass ich weiter hören muss! Knickendes, reißendes Papier, nach und nach fallen die Blätter zu Boden, mal gleiten sie noch ein Stück schleifend über das Parkett, mal schlagen sie hart mit der Kante auf. Dazu die Tapser, die Krallen, das Tierische. Etwas stößt mich am Bein an. Ich bin wie erstarrt, habe Angst, fast Panik.
«Wie sieht’s denn hier aus?» Plötzlich steht Martha im Zimmer. Ruckartig richte ich mich auf, schaue mich um. Überall Papier, einiges davon zerrissen. Ratlos schüttle ich den Kopf. Sie lacht, verlässt das Zimmer wieder und geht in die Küche. Kniend sammle ich die Blätter vom Boden auf. Auf einem Fetzen ist in großen Lettern «Kreat ...» lesbar. Kreatur oder kreativ? Mein Blick wandert zum Drucker. Was hier verstreut liegt, sind die Ausdrucke meiner Recherche eben. Der Wind muss sie aus dem Ausgabefach geweht haben. Vor dem Drucker auf dem Parkett liegen einige rosafarbene Blütenblätter, dort wo das Holz nass ist, gibt es helle Stellen durch das reflektierende Licht. Ich suche das Zimmer ab. Wo sind die Tiere?
«Was guckst du denn so verstört?» Martha reicht mir belustigt eine Tasse Tee, als ich in die Küche komme.
«Ich bin gleich nochmal weg, wollte nur kurz die Beine hochlegen», sagt sie.
«Hast du Tiere in meinem Zimmer gesehen?», frage ich leise.
Sie schaut mich ungläubig an, schüttelt lachend den Kopf.
Nachmittags sortiere ich die Ausdrucke, untersuche dabei die zerrissenen Seiten und kann auch mit noch so viel Fantasie keine Bissspuren erkennen. Aber wer hat die Seiten dann zerrissen. Ich selbst? Martha? Der Regen hat mittlerweile nachgelassen, der graue Himmel klart bereits auf. Ich setze mich in den Schaukelstuhl, beginne mit der Lektüre, so wie ich es mir vorgenommen hatte. Hin und wieder schaue ich auf, halte den Balkon im Blick. Auf die Bauchmuskelübungen werde ich heute verzichten – das scheint mir zu gefährlich.
Im Aquarium bin ich die Erste. Mittig stehe ich vor dem großen Panoramabecken, versuche die Umgebung auszublenden, mir vorzustellen, ich sei nicht hier in Köln, in einem gefliesten Innenraum, sondern irgendwo im Dschungel am Amazonas, wo die Wildheit echt ist, Zähne hat und Potenz. Aber das wilde, echte Leben scheint mir so fern, dass sich kein rechtes Bild aufbauen will. Stattdessen fokussiere ich die als bestialische Killer verschrienen Fische, die hier so unschuldig und unspektakulär durch ihr Becken gleiten, wenn sie sich überhaupt bewegen. Nach ein paar Minuten steht er hinter mir. Sein großer Körper strahlt eine unglaubliche Wärme ab. Wahrscheinlich schwitzt er ob des tropischen Klimas in diesen Wänden. Dann tritt er neben mich.
«Dieser Institution Zoo will ich Ihretwegen eine Chance geben. Überzeugen Sie mich. Was ist gut daran?»
Ohne ihn anzusehen, antworte ich: «Zootiere sind Botschafter. Artenschutz ohne Zoos wäre zu abstrakt, um eine große Anhängerschaft zu gewinnen. Hier können Sie sehen und riechen, was schützenswert ist und weshalb es sich lohnt, ein paar Euro mehr für zertifizierte Tropenhölzer auszugeben.»
Er schweigt. Sein Nachdenken über meine Worte produziert zusätzliche Wärme.
«Und darüber hinaus wird einem im Zoo so wunderbar der Spiegel vorgehalten. Ich behaupte, die meisten Menschen, mich eingeschlossen, leben nicht weniger gefangen, sind nur medizinisch und kulinarisch schlechter versorgt. So ein Zoo ist im Grunde ein recht bequemes Lebensmodell.»
Читать дальше