Erst als ich Geräusche im Treppenhaus höre, erhebe ich mich, wechsle den Slip und ziehe mich wieder an.
Beim Essen erzählt Martha, dass sie plane, mit einer Freundin im Herbst nach Malaga zu fliegen. Sie brauche Inspiration. Ein alter Stofflieferant habe sie gefragt, ob sie Lust hätte, einen Entwurf für eine Sonderedition zu machen. Der Arbeitstitel: Stoffe, die Geschichten erzählen. Zwölf verschiedene Designer, zwölf verschiedene Geschichten. Ideen habe sie wohl schon, aber noch nichts Konkretes.
Sie hat ein Talent, sie kennt es und sie nutzt es.
Die Haken auf meiner To-do-Liste verlieren augenblicklich ihren Wert. Hausarbeit: klar und einfach, Wiederholung in sisyphosscher Manier.
Lieber wäre ich der Schöpfer einer lesbaren Geschichte, umgesetzt in einem ästhetischen Muster, dessen Wiederholung man nicht wahrnimmt, obwohl sie da ist.
Die eben noch verspürte Befriedigung schwindet, wandelt sich in Neid. Sogar das Milchbad ist in der Erinnerung nur noch ein lächerlicher Versuch, besonders zu sein.
Ich muss das Thema wechseln.
«Weißt du noch, der alte Mann aus dem Zoo?»
«Ja, und?»
«Ich glaube, er beobachtet deinen Balkon.»
«Warum sollte er das tun?»
«Ich weiß es noch nicht.»
«Vielleicht interessiert er sich einfach nur für die Bisons, ein ehemaliger Tierpfleger möglicherweise.»
«Nein, das kann ich ausschließen. Er hasst den Zoo.»
«Du hast mit ihm gesprochen?»
«Ja, wir haben uns für heute Nachmittag verabredet.»
«Was?! Warum verabredest du dich mit einem fremden, alten Sack, der uns observiert?»
«Weil er interessant ist. Außerdem ist es kein alter Sack. Er dürfte zwar in deinem Alter sein, hat sich aber gut gehalten. Mindestens so wie du.»
«Mach, was du für richtig hältst.»
Bevor sie sich für den täglichen Mittagsschlaf ins Wohnzimmer zurückzieht, blickt sie mich lange und prüfend an, schließt dann die Tür hinter sich ohne ein weiteres Wort.
Auf einer Bank vor den Zebras gebe ich mich kurz darauf meiner Unzufriedenheit hin. Die Pfleger sind auf der Anlage, räumen die Haufen weg, befüllen die Futtertraufe. Für den Rest des Lebens, jeden Tag, mit Leidenschaft – angeblich sind Tierpfleger glückliche Arbeitnehmer.
Gehalt, Image, welche Leute man trifft, in welcher Stadt man lebt, vielleicht sogar in welchem Land – alles abhängig von einer Entscheidung, die man viel zu früh treffen muss und dennoch im Idealfall ein Leben lang nicht bereut.
Eine Banklehre. Im Nachhinein offensichtlich eine schlechte Idee. Eine vernünftige Entscheidung wollte ich damit treffen, schnell Geld verdienen, später noch studieren, Sprachen lernen und im Ausland arbeiten.
Ich dachte, wenn man nicht weiß, wofür man geboren ist, macht man erst mal das, wofür viele geboren sind.
Ein Pfleger schaut auf, als er hört, wie die flache Hand gegen meine Stirn klatscht.
Martha hätte intervenieren müssen. Aber sie hat den Mund gehalten. Gar nichts hat sie gesagt. Nur stumm genickt, die Augenbrauen zweifelnd hochgezogen. Damals dachte sie wohl noch, nach dem ersten Lehrjahr käme ich selbst zur Besinnung.
Eine Welle des Frustes überrollt mich. Es ist alles da, alles möglich, aber ich sehe es einfach nicht. Eine Mischung aus Wut und Verzweiflung lässt mich die Fingernägel in die Bank krallen, bis sie umknicken.
Die Zebras werden aus der Stallung gelassen, galoppieren zielstrebig zum frisch aufgefüllten Futter.
Ich stehe auf, muss mich endlich bewegen.
Flamingo und Gepard
Die Flamingos. Große, farbenfrohe Vögel, die zu Zehntausenden in Kolonien leben und mit ihrem Seihschnabel Plankton und sonstige Nahrungspartikel aus dem flachen Wasser filtern. Im Zoo sind es nur knapp 100 Tiere und die rote Farbe ihres Gefieders kommt von speziellen Farbstoffen, die man ihrer Nahrung zusetzt, in Ermanglung der roten Krebstiere, die sie in freier Wildbahn fressen. Im Zoo bewohnen sie eine große Wiese mit einem Teich. Egal wie lange man vor dem Zaun stehen bleibt, in der Gruppe kommt es nie zum Stillstand. Wie durch ein unsichtbares Band sind alle miteinander verbunden. Bewegt sich einer, hat das Einfluss auf den Nebenstehenden und dessen Reaktion wiederum Auswirkungen auf den Flamingo daneben. Besonders die Ranghöchsten fungieren durch das Austragen von Machtkämpfen wie gruppeninterne Motoren, die das pinkfarbene Gefüge in Bewegung halten. Synchron kommen sie in Brutstimmung und führen die Balztänze in einer Art Choreografie gemeinsam auf. Bewegt sich einer von der Wiese ins Wasser, folgen meist automatisch alle anderen. Die Vielzahl der unterschiedlichen Töne, die sie von sich geben, lässt auf einen hohen Grad an Kommunikation untereinander schließen.
Worüber unterhalten sie sich? Das Wetter, das Nahrungsangebot, dass der Tümpel stinkt oder Flamingo X sein Nest schlampig gebaut hat? Der Einzelne tut, was die Gruppe tut, und die Gruppe ist jeder Einzelne. Jeder Schritt, den sie machen, wird bestätigt oder sanktioniert durch die anderen. Sie bekommen immer Feedback, sie sind nie allein.
Und werden sie mal trübsinnig, weil man sie fluguntauglich gemacht hat und der Luftraum für sie unerreichbar geworden ist, so finden sie Trost in der Tatsache, dass sie nicht die Einzigen mit diesem Schicksal sind. Automatisch fühlen sie sich besser, spüren das enge Band zu den anderen.
Ungefähr so verhält es sich auch in einer italienischen Großfamilie auf dem Land mit begrenzten Mitteln, aber dem stillen Vertrauen darin, dass alles so ist, wie es sein muss, weil es immer so war.
Neben den Flamingos lebt der Gepard. Still und zurückgezogen hält er sich im Hintergrund. Man muss genau hinschauen, um das gut getarnte, regungslose Tier auf seinen favorisierten Ruheplätzen zu entdecken. Laufspuren auf der Wiese zeigen, er bewegt sich auf den immer gleichen Wegen. Niemand verleitet ihn dazu, vom bekannten Pfad abzuweichen. Mit niemand sind in erster Linie Beutetiere gemeint, denn die Weibchen sind in freier Wildbahn Einzelgänger und treffen nur zur Paarung auf die Männchen.
Da also das bei den Flamingos so den Alltag dominierende Sozialgefüge weitgehend fehlt, gibt es im Grunde nur den Hunger, der Bewegungsanreize gibt und immer rechtzeitig gestillt wird. Worin könnte sonst für den Gepard ein Anreiz bestehen, sich aufzuraffen, seinen Schritt auf die unglaublichen 120 km/h zu beschleunigen, zu denen er fähig ist? Weiß er überhaupt, was er kann? Weiß er, dass er der erfolgreichste Einzeljäger unter den Raubtieren ist?
Jetzt liegt er dort ausgestreckt auf der Wiese, rekelt sich in der Sonne. Er hört das schrille Geschnatter der Flamingos von nebenan, das für ihn, den stillen Savannen- und Steppenbewohner, einer unangenehmen Kakofonie gleichkommen muss.
Wie findet man heraus, zu welcher Art man gehört, wenn man es nicht spürt?
Gegen vier bin ich, wie verabredet, bei den Elefanten. Er sitzt auf einer Bank, die Beine übereinandergeschlagen und den Blick gedankenverloren geradeaus gerichtet. Ich habe das Gefühl, dass er schon länger dort sitzt und dass er auf keinen Fall wie jemand wirken will, der auf jemand anderen wartet. Ich setze mich neben ihn.
«Wollen wir einen Kaffee trinken?»
Langsam dreht er den Kopf zu mir herüber.
«Gerne», sagt er. Die Sonne blendet ihn, sodass er die Augen ein wenig zusammenkneifen muss. Es scheint, als verhindere einzig der feine, dunkle Rand um seine Iris herum, dass das Silber aus seinen Augen herausfließt und auf seine Kleidung tropft. Er steht auf, lächelnd, stellt sich nicht vor, reicht mir nicht die Hand, sondern weist mir nur höflich mit den Armen die Richtung zur nahe gelegenen Kaffeebude. Wir nennen der Dame hinter dem Tresen unsere Bestellung. Als sie die dampfenden Becher zu uns hinüber schiebt, will er bezahlen, dreht sich dann aber ruckartig zu mir herüber.
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