«Ich darf Sie doch einladen, oder?»
«Alles gut, vielen Dank», sage ich. Er lacht. Als ich meine Hand beruhigend auf seinen Unterarm lege, verebbt sein Lachen jäh. Dann nehme ich meinen Kaffee und schlage vor, ein wenig zu gehen, um eine Bank im Schatten zu suchen. Er nickt, sein Lächeln kehrt zurück.
«Jetzt sagen Sie schon, warum schlagen Sie die Zeit tot und das auch noch an einem Ort, den Sie verabscheuen?»
«Die Geschichte ist wahnsinnig lang. Ich würde sie langweilen.»
«Das glaube ich nicht. Außerdem lässt sich jede noch so komplexe Geschichte in drei Sätzen zusammenfassen. Versuchen Sie es. Bitte.»
«Gut. Geben Sie mir einen Moment.» Konzentriert blickt er in den halb leeren Becher. Nach einer Weile hebt er den Kopf wieder.
«Die Geschichte beginnt mit einer kurzen, aber überwältigenden Liaison mit einer wundervollen Frau. Mein größtes Glück war, sie getroffen und zu haben, und mein größtes Glück war auch, dass sie mich ...», er zögert, «... vollkommen überraschend und nicht nachvollziehbar wieder verlassen hat. Was folgte, waren, und jetzt werde ich ein bisschen theatralisch, um Sie neugierig zu machen, Schmerz, Verzweiflung, Dunkelheit, Explosionen und Zerstörung, einstürzende Hochhäuser, Lawinen, Kälte, Naturgewalten ...», seine Stimme wird weicher, «... Naturwunder, Weite, Höhe, Frieden und schließlich Zufriedenheit … und, zugegebenermaßen, mit diesem mittlerweile großen Abstand auf die Ausgangssituation, kam auch die Neugier, was wohl aus dieser eingangs erwähnten Frau geworden sein mag, die unwissentlich alles ins Rollen gebracht hat.»
Er sieht mich erwartungsvoll an.
«Und, wie war das?»
Ich bleibe stehen, schaue in sein von wahrscheinlich den eben beschriebenen Gewalten gezeichnetes Gesicht. Ich würde ihn gerne anfassen, weiß aber, dass es das falsche Signal wäre.
«Heute habe ich nichts mehr vor, Sie können also ganz vorne mit der Geschichte beginnen und lassen Sie bitte kein Detail aus.»
Er lacht erleichtert, trinkt seinen Kaffee in einem Zug aus und sagt: «Nein, jetzt will ich erst mal von Ihnen wissen, was eine junge, hübsche und, ich vermute mal, intelligente Frau wie Sie, täglich in diesem ...», er sieht sich um, «... in diesem künstlichen Mikrokosmos zahnloser und kastrierter Wildheit macht!»
Ich seufze laut. «Meine Geschichte ist ausgesprochen kurz: Ich weiß es nicht. Eigentlich weiß ich gerade gar nichts und ich frage mich, ob ich mir wünschen soll, dass mir auch einer mal so richtig das Herz bricht», ich schaue zu Boden trete mit dem Fuß nach den imaginären Bruchstücken, «der es mit Füßen tritt und bis zum Äußersten malträtiert, damit ich später Ähnliches vorzuweisen habe wie Sie. Im Moment ...», ich lache bitter, «... und auch in den Momenten davor, passiert in meinem Leben nämlich nichts. Überhaupt gar nichts.» Beim letzten Satz trete ich feste auf, wirble damit ein wenig Staub vom Boden auf.
«Und, um endlich Ihre Frage zu beantworten, ich bin hier, weil ich Tiere mag, meine Großmutter in der Nähe wohnt und ich auch irgendwie, irgendwo meine Zeit totschlagen muss.»
Er lacht laut. «Seien Sie beruhigt, ich habe KEIN Mitleid mit Ihnen. Aber eins kann ich Ihnen versichern, hier sind Sie am falschen Ort, genau wie ich.»
«Warum nochmal kommen Sie täglich her?», frage ich nach.
«Diese Frau, von der ich gesprochen habe, wohnt auch hier in der Nähe und ich dachte, ich fliege einfach von Zürich nach Köln, klingle an ihrer Tür, sage «Hallo», sehe, was aus ihr geworden ist, und fahre zufrieden, ein für alle Mal einen Haken an diese Geschichte gemacht zu haben, zurück zum Flughafen. Aber jetzt, wo ich hier bin, weiß ich nicht mehr, ob das eine gute Idee ist. Also brauche ich Zeit, um zu überlegen.»
Kurz bevor der Zoo seine Türen schließt, verabschieden wir uns. Ich umarme ihn kurz, spüre, dass er nicht wagt, seine Arme auch um mich zu legen. Er riecht nach Sommer und einem herben Männerdeo.
«Morgen um 15:00 Uhr werden im Aquarium die Piranhas gefüttert. Das sollten Sie auf keinen Fall verpassen», sage ich mit gespieltem Ernst.
«Auf keinen Fall. Dann also bis morgen. Hat mich sehr gefreut.» Ohne sich nochmal umzudrehen, verschwindet er langsam in Richtung Hauptausgang.
Habe keine Ahnung, wo Martha ist. Auf einen ungewöhnlichen Nachmittag folgt ein überaus gewöhnlicher Abend. Mein Laptop steht dabei mahnend auf dem Wohnzimmertisch. Das Fenster einer Suchmaschine füllt den kompletten Bildschirm aus. Der Cursor flackert ungeduldig und dennoch kann ich mich nicht überwinden, irgendeinen Suchbefehl einzugeben.
Stattdessen lasse ich mich dankbar vom Fernseher ablenken. In dem Film, der gerade läuft, hat eine Frau die Wohnungstür hinter sich geschlossen, um sich dann zielsicher auf klappernden High Heels an der nächsten Ecke einen Coffee-to-go zu kaufen. Sie dürfte ca. Mitte dreißig sein. Vor einer imposanten Großstadtkulisse, ich denke, es ist New York, bahnt sie sich ihren Weg durch die Menge zu einem sanierten Fabrikgebäude aus Ziegelstein, in dem ihr großer, weißer Schreibtisch steht. Sie setzt sich, ist die Erste im Büro, wirft sinnierend einen Blick durch das große Fenster auf die Skyline. Im Hintergrund dazu eine Musik, die ihr Einzelkämpfertum, ihre strenge Arbeitsdisziplin und die durch ein fehlendes Privatleben stetig vorhandene Traurigkeit untermalt. Schmerzlich wird mir klar, mir fehlt nicht nur die richtige Aufgabe, sondern auch die Identität.
Ich klappe den Laptop zu. Lieber verweile ich noch ein paar Tage in dem einigermaßen guten Gefühl, am Anfang der Suche zu stehen, vor mir das Meer der Optionen und hinter mir der trübe Tümpel, in dem ich bisher geschwommen bin.
Ich wechsle den Kanal, will etwas sehen, das in der Lage ist, mich wirklich abzulenken, aber vergeblich. Alles ist Anspielung oder Fingerzeig … oder es geht um Liebe.
Reflexartig schaue ich auf mein Handy. Vielleicht hat er mir geschrieben, durch hartnäckiges Recherchieren irgendwie einen Weg zu mir gefunden. Ich könnte Daniel selbst anrufen, aber was sollte ich sagen? Mit jeder Stunde, die seit unserer Begegnung im Zug vergangen ist, rückt er weiter in die Ferne, verschwindet er, der Schöne, und mit ihm ich selbst, die, die an diesem Tag so überraschend schlagfertig war.
Mittwoch. Die morgendliche Waschung bekommt allmählich Routine. Marthas Unbehagen, wenn sie nackt ist, bleibt jedoch und sie legt sich weiterhin wie eine Decke dämpfend auf die Konversation währenddessen und auch danach. Wir reden nur wenig und wir reden leise, wenn wir im Bad das Waschprozedere durchführen – als könnten ihr die Worte zu nah kommen, auf so engem Raum und ohne schützende Kleidung.
Nach dem Frühstück macht sich Martha bereit, auszugehen. Sie will zu dem Treffen irgendeines Gremiums, in dem sie Mitglied ist. Genaueres hat sie dazu nicht gesagt, auch nicht auf mein Nachfragen.
Allerdings interessiert sie sich dafür, wie meine gestrige Verabredung mit dem alten Mann verlaufen ist und ob er tatsächlich ihren Balkon beobachtet.
«Danach habe ich gar nicht gefragt, erschien mir nicht mehr so wichtig.»
«Was war denn wichtiger?», hakt sie nach.
«Alles andere. Er ist wirklich ein interessanter Typ. Ich denke, er würde dir gefallen.»
«Wieso sollte er?», Martha platzt fast vor Neugier, aber sie beherrscht sich, ist zu stolz, das zuzugeben. Deshalb begnügt sie sich mit ein paar wenigen, aber reizvollen Informationen zu seiner Person. Ich erwähne, dass er als Sprengmeister Hochhäuser auf Knopfdruck in dicht bebauten Großstädten hat in sich kollabieren lassen.
«Und diese, wenn auch kontrollierte, rohe Gewalt nur, um sich den Knoten im Hals wegen des Verlusts der großen Liebe wegzusprengen», erkläre ich ihr. Sie lächelt verklärt. Diese Form der Romantik gefällt ihr. Sie sieht auf ihre Uhr, greift nach ihrer Tasche und verabschiedet sich knapp.
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