„Und jetzt ... bringst du mich wieder hoch, hast du verstanden?“ Ein Zähneknirschen schnitt sich durch die entstandene Stille. Selbst die Grille ward nun stille. Gabb unterdrückte das Blinzeln, hielt den Atem an und sagte langsam und bedächtig, mit ruhigem Ton:
„Ja und Nein!“ GJ schloss bedächtig die Augen, zwang seinen quadratischen Gefühlsklumpen herunter und richtete sich gemächlich auf. Gabb setzte nach:
„Also, ähm, verstanden hab ich schon, aber ... das mit dem zurückbringen ist so ne Sache.“
Der Sohn Gottes brauchte einige Sekunden um sich zu fangen. Er hatte es geahnt. Tief in seinem Innersten hatte er es geahnt. So schnell kam er aus dieser Nummer nicht heraus. Ohne ein weiteres Wort kletterte er auf einen großen Felsen, legte den Kopf in den Nacken und begann aus vollem Halse an zu schreien:
„VATER. Hol mich sofort hier raus, verdammt. Das kannst du mir nicht antun.“ Nichts geschah.
„VATER!!! Allmächtiger, Herr aller Dinge, Erschaffer dieser Welt…“, usw. usw. So ging es eine ganze Weile, während die Sonne über den Himmel wanderte. Gabbs kleiner Einwand wurde mit rüden Blicken zerschmettert. Und so überließ er ihn seinen unbelehrbaren, lauthalsigen Schreien. Es variierte von Zeit zu Zeit, mit mehr oder weniger eingeschobenen Pausen, mal lauter, mal leiser, mal schriller und heiser, mal dumpfer, mal stumpfer, mit Flehen, über Betteln, Verwünschungen und Flüchen, bis hin zu Wimmern, Weinen, Stampfen, Drohen und allem, was ein Kind seinen Eltern noch so antun kann. Der Engel hielt sich strikt zurück und machte sich so seine Gedanken. Junior war ihm ein wenig zu unbeherrscht. Zudem hatte Gabb keine große Lust seinem neu gewonnenem, menschlichen Körper Schmerzen zufügen zu lassen. Sollte sich der göttliche Knabe erst einmal austoben. Später könnten sie mit ihrer Unterhaltung fortfahren. Dann würde er ihm auch endlich unterbreiten, dass Vater im Urlaub sei, was er ihm bereits vor Stunden hatte sagen wollen. Wenn er sich wieder beruhigt hatte, Hunger bekam und die Ausweglosigkeit seiner Situation begriff, würde Gabb ihm unmissverständlich klar machen, dass es definitiv besser sei, ihm und seinem Plan zu folgen, als sich hier unten 2000 Jahre die Zeit mit Steine sammeln oder Nationen versklaven zu vertreiben. Gabb wollte die Menschheit nachhaltig beeinflussen, ihnen ihren Gott näher bringen. Sie bekehren, oder zumindest das schlichte, schwierige Leben ein wenig erleichtern. Ihnen eine andere, bessere Sicht auf die Dinge bescheren. Das würde nicht nur Gott gefallen, sondern er würde sich einen sicheren Platz in der ehrenvollen Riege der Erzengel sichern. Seine Probezeit, so hatte er es mit Gott vereinbart, endete mit dessen Rückkehr aus dem Urlaub. Würde er dieses Sohn-Gottes-auf-Erden-Ding durchziehen, war er drin.
Er schaute herüber zu GJ. Dieser keuchte, auf die Hände gestützt, auf dem Felsen herum. Seine Wut schwand mit jedem Schweißtropfen der ihm aus den überanstrengten, Fettporen sickerte. Gabb spürte es instinktiv, nicht nur am Geschmack, der in der Luft lag. Ganz unvermittelt überspülte ihn eine Welle von Zweifeln. Als er den jungen GJ dort oben auf seinem Felsen knien sah, malte er sich plötzlich aus, wie es wäre, wenn die ganze Sache hier schief ginge. Was, wenn der Junge doch nicht mitmachte. Wenn der Sturkopf eigene Vorstellungen hatte, wie er seine Zeit verbringen sollte. Würde sich dann sein Plan ändern? Würde ihm der Junge, der wahrlich Gottes Sohn war, sogar seinen Plan sabotieren? Eigene Leute um sich scharen und einen ganz anderen Missionsgedanken säen? Gabb schüttelte den Kopf. So weit durfte es nicht kommen und er wischte die Gedanken fort, wie die Krümelreste des Kuchens von Tante Tilly auf der akkurat gehäkelten Tischdecke im zweiten Stock einer überaus teuren Seniorenresidenz um 1907 herum.
Aus dem Schatten des Felsens heraustretend, packte Gabb den Eimer und stiefelte hinauf zu GJ. Die nachmittägliche Sonne brannte noch immer stark vom Himmel. Wortlos griff er zu der Kelle im Eimer und reichte ihm das frische, kühle Wasser aus dem Brunnen. GJ schaute krebsgrimmig, nahm jedoch dankbar die Kelle, wie eine Friedenspfeife, entgegen und trank hastig mit tiefen Schlucken. Erst jetzt spürte er wie durstig er eigentlich war und was Durst bedeutete.
„Noch eine!“ presste er im Flüsterton heraus. Er hatte sich heiser geschrien. Gabb reichte ihm den ganzen Eimer.
„Trink. Das wird dir guttun. Dieser Körper ist anders, als alles, was du bisher gekannt hast. Er ist ein zerbrechliches Gefäß und du musst ihm ab und an Ruhe geben, damit er sich erholen kann!“
GJ nickte, plötzlich müde und träge.
„Lange können wir nicht mehr hier bleiben, die Sonne geht bereits unter und wir haben noch einen ordentlichen Weg vor uns.“ Auch das nahm der Junge einfach so hin. Seine Schimpftiraden hatten etwas für sich gehabt, dachte der Engel. Eine Stunde später brachen sie gemeinsam auf und es sollte ein denkwürdiger Abend werden.
Vom Regenbogen keine Spur
Die Sonne war bereits lange untergegangen und der Weg hatte sich doch als weiter herausgestellt, als Gabb vermutete. Beziehungsweise hatte GJ länger gebraucht. Keuchend schlurfte der Junge hinter dem Engel her und zog schlangenspuren durch den Sand. Die Wut war vollständig verflogen. Vielmehr hatte er sich im Laufe der letzten Stunden grundlegend gewandelt. Als sie losgingen wurde Gabb schnell klar, was für ein Typ GJ eigentlich war. Es hätte ihm von vornherein auffallen müssen, da der Körper eines Himmelbewohners auf Erden sich aus dessen Vorstellung und Charakter bildete. Wenn er sich den Knaben genauer ansah, schien er recht klein geraten, dafür Übergewichtig. Schwabbelig, mit einem Schritt zum Weichkäse treten. Seine unreine Haut vervollständigte das Bild von schlechter Ernährung und zu wenig körperlicher Betätigung. Für den Himmel hat das allemal ausgereicht, aber für die Mission, die sie hier vor sich hatten…
Aber eins nach dem anderen , dachte sich Gabb, als er den Jungen weiter antrieb:
„Komm schon, es ist nicht mehr weit! Hoffentlich sind wir nicht zu spät!“ Schweißnasse Haarsträhnen klebten GJ im Gesicht und er tropfte wie das Leck in der Titanic.
„Zu spät?“, hauchte er. „Wofür?“
„Wirst du dann sehen!“ erwiderte Gabb und zog den Sohn Gottes über die nächste Düne. Der Mond stand glücklicherweise am Himmel und ließ das Ziel erkennen.
„Da!“ GJ kniff die Augen zusammen. Kurzsichtig schien er auch zu sein, denn er konnte nichts erkennen.
„Wo? Was?“ Hätte Gabb ihn nicht gezogen, wäre er auf der Stelle zusammen gebrochen und eingeschlafen. Die Nachtluft verwandelte ihren Atem in kleine Schäfchenwolken vor ihren Gesichtern, aber dafür hatte GJ keine Augen. Völlig erschöpft kam er an einem alten Bretterverschlag, mitten im Nirgendwo an und Gabb klopfte vehement an die Tür:
„Hallo?“ Wehklagen und heftiges Atmen durchdrangen die groben Bretter der Hütte. Gabb hämmerte wieder. Das Stöhnen wurde zu Schreien und wieder zu heftigem Durchatmen. Aber niemand machte auf. Noch einmal schlug Gabb auf die Tür ein. Plötzlich wurde sie aufgerissen und ein breitschultriger Mann mit einem langen Messer, blutigen Fingern und roten Schlieren an Gesicht und Gewand erschien im Eingang.
„Was denn?!“ spuckte er ruppig, wartete nicht auf die Antwort, sondern drehte sich auf der Stelle um und verschwand wieder. Das Innere wurde von einer kleinen Feuerstelle erleuchtet, während sich Esel und Schafe gerade gute Nacht sagten. Aufgrund der natürlichen Artenvielfalt und verschiedener ethnischer Herkunft, wie der dazugehörigen, nicht vorhandenen Schulbildung, verstanden sie einander nicht, wussten aber alle was gemeint war. Gabb und GJ steckten die Köpfe herein. Der Wahnsinnige war GJ nicht geheuer und was ging hier überhaupt vor? Seine Sinne standen auf ‚OBACHT‘! Auf einem Strohhaufen in der Ecke lag eine, vor Blut nur so triefende Frau, vollständig entblößt, untenherum, wie sich unschwer erkennen ließ. Sogleich machte er einen Schritt zurück. In seinem Mund wurde sein Keuchen, durch einen Magensäure-Mittagessen-Mischmasch, gewürzt mit scharfem Unterton im rechten Zungenbereich, ersetzt.
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