„Ich werde hier draussen auf Sie warten.“
„Danke.“ Meine Beine sind schwer, als ich den kurzen Weg, der zum Eingang führt, zurücklege. Trotzdem bringe ich die Strecke in sicheren Schritten hinter mich.
Ich sitze seit gut fünf Minuten im Wartezimmer, habe soeben das Anmeldeformular ausgefüllt und schon steht die Ärztin vor mir. Die Ähnlichkeit, die diese Frau mit Rose hat, ist beirrend. Dr. Glasgow hat die gleichen Augen und ebenfalls rote Haare, jedoch mit grauen Strähnen durchzogen.
„Miss Weber?“ Sie streckt mir die Hand hin und sagt: „Ich bin Dr. Glasgow.“ Wir schütteln uns kurz die Hände und ich folge ihr in das Sprechzimmer. „Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Die Ärztin deutet auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Wie alles in dieser Praxis, ist auch ihr Büro weiss und hell eingerichtet. „Sie sehen mich an, als würden Sie einen Geist sehen, Miss Weber.“
„Tut mir leid. Aber sind Sie vielleicht mit einer Rose Morgan verwandt?“
Ein feines Lächeln spiegelt sich auf ihrem Gesicht wider. „Sie ist meine Schwester.“
Kann es sein, dass Damian Rose in unsere Affäre eingeweiht hat? „Wer hat mich angemeldet?“ frage ich sie atemlos.
„Mr. Meyer.“
Ich starre sie mit offenem Mund an. Weiss Rose bald über Damians und meine Beziehung Bescheid?
„Keine Bange. Ich stehe unter ärztlicher Schweigepflicht.“ sagt sie, als könnte sie meine Gedanken lesen.
„Oh, natürlich.“ Erleichtert stosse ich die angehaltene Luft aus.
„Also, Miss Weber. Was kann ich für Sie tun?“
„Ich würde mir gerne die Pille verschreiben lassen.“
„Wie haben Sie bis anhin verhütet?“
„Gar nicht. In den letzten Monaten war es nicht nötig.“
Sie tippt irgendwas in ihren PC und wendet sich mir wieder zu. „Gut. Zuerst einmal würde ich Sie gerne untersuchen, damit ich Ihnen dann ein Rezept verschreiben kann. Sie können sich hinter der Gardine da ausziehen.“ Sie zeigt mit der Hand auf eine Ecke.
Ich nicke, gehe hinter die grosse Stoffbahn und ziehe meine Schuhe, Strümpfe und Slip aus. Den Rock schiebe ich nach oben, sobald ich auf dem Untersuchungsstuhl sitze und die Beine öffne.
Rose' Schwester öffnet meine Schamlippen mit einem kühlen Stab und spreizt sie, um einen gewöhnlichen Krebsabstrich zu machen und zieht den Stab wieder heraus. Danach tastet sie mich innerlich mit einem behandschuhten Finger ab. All das kenne ich noch von den früheren Untersuchungen. Es ist nichts Neues, trotzdem unangenehm.
„Ich würde noch gerne einen Ultraschall machen.“
„Warum?“
„Bevor ich Ihnen etwas verschreibe, möchte ich Sie vollständig untersuchen.“
„Ist das nötig?“
„Ich möchte sehen, ob ihre Eierstöcke und die Gebärmutter in Ordnung sind.“
Meine Hände krallen sich soweit in die Stuhllehne, dass die Fingerknöchel weiss hervortreten. „Ich hatte eine Fehlgeburt.“ platzt es mit einem Mal aus mir heraus.
„Deshalb die Narbe.“ Sie muss die Wunde beim Abtasten entdeckt haben.
„Ich war erst vor wenigen Monaten bei meiner Schweizer Gynäkologin. Sie hat mir versichert, dass alles so ist, wie es sein sollte, nach einer Ausschabung.“ Meine Stimme klingt abweisender als beabsichtigt.
„Dann möchte ich wenigstens die Narbe genauer ansehen.“
„Gibt es einen Grund dafür?“
„Ich will nur sicher sein, dass sie gut verheilt ist.“ antwortet sie ruhig und freundlich.
Es kann sicher nicht schaden, wenn sich eine weitere Ärztin das Wundmal meiner Fehlgeburt begutachtet. Und somit lasse ich den vaginalen Ultraschall ebenso über mich ergehen, wie die vorangegangene Untersuchung.
Angezogen setze ich mich wieder vor ihren weissen Tisch und warte nervös auf ihre Diagnose.
„Es ist alles bestens.“
Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich den Atem angehalten habe, während ich auf ihre Beurteilung gewartet habe und den ich jetzt vor Erleichterung aus meiner Lunge stosse. „Danke.“
„Aber wenn sie plötzlich irgendwelche Schmerzen in ihrem Unterleib empfinden sollten, melden Sie sich bei mir.“
„Werden Sie es ihm sagen?“
Sie bewegt leicht ihren Kopf von rechts nach links und wieder zurück. „Wie gesagt, ich stehe unter der ärztlichen Schweigepflicht. Niemand wird von dem, was wir hier drin besprechen erfahren. Sie sollten ihm jedoch davon erzählen.“
„Das ist nicht so einfach.“
„Das habe ich auch nicht behauptet und dennoch wäre Ihnen beiden geholfen, wenn Sie es ihm anvertrauen würden.“
„Kennen Sie Mr. Meyer?“
„Nur flüchtig. Aber ich weiss, dass er fair zu seinen Mitmenschen ist. Dass er ein guter Chef und ein noch besserer Freund ist.
Nach einer guten halben Stunde verlasse ich das rote Stadthaus. In der Handtasche eine Packung mit Verhütungspillen für die nächsten drei Monate und ein Rezept, mit dem ich für weitere neun Monate in einer Apotheke Nachschub besorgen kann.
Pietro wartet im Wageninnern, steigt aber in dem Moment aus, als er mich den Weg entlangkommen sieht.
„Es ist ziemlich frostig geworden.“ meint er, während er die Tür für mich öffnet. „Wo darf ich Sie hinbringen?“
Ich bin müde und erschöpft. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Mit einem Mal wünsche ich, ich könnte nach Hause. Nach Hause zu meinem Vater. Ich brauche eine starke Schulter zum anlehnen. Jemanden mit dem ich über meine Vergangenheit reden kann. Und auf dieser Erde gibt es nur zwei Personen davon. Mein Vater und meine beste Freundin Sandy. Nur leider leben diese beiden über achthundert Kilometer weit von mir entfernt.
„Könnten Sie mich nach Hause bringen?“ Eigentlich habe ich gehofft, dass Pietro mich zu seinem Chef fahren würde, dass mich Damian bereits erwarten würde. Aber noch weniger habe ich den Mut dazu, Pietro darum zu bitten. Also verkrieche ich mich in den anschmiegsamen Polstern der noblen Limousine, schliesse meine Augen und blende alle Geräusche um mich herum aus.
Ich habe Damians Wunsch erfüllt und mir die Pille verschreiben lassen, obwohl ich noch nicht wirklich dazu bereit war. Ich habe mich untersuchen lassen, auch wenn mich der Besuch bei der Gynäkologin in die Vergangenheit zurückkatapultiert und die damit verbundenen Erinnerungen mich leiden lassen. Umso mehr habe ich mir gewünscht, dass ich in Damians Arme fliehen könne und er mir dabei helfen würde, die qualvollen Gedanken auszublenden, die mein Herz wie eine kalte Faust umschliessen. Doch jetzt bin ich auf dem Weg in Miras Wohnung, das nun seit über vier Wochen auch mein zu Hause ist. Ist sie vielleicht schon zurück von ihrem Kurztrip oder erwartet mich ein leeres Heim? Ich weiss nicht, ob ich ihr begegnen oder lieber ungesehen in meinem Zimmer verkriechen möchte. Es macht mir Angst, mit jemandem über die schrecklichen Dinge zu sprechen, die mich zu diesem verkorksten Ich gemacht haben. Aber wie lange wird es noch dauern, bis all meine Wände reissen und in sich zusammenstürzen?
Ich überlege mir, meinen Vater anzurufen, sogar spiele ich mit dem Gedanken an Weihnachten in die Schweiz zu reisen. Auch wenn das Letztere mir höllische Furcht einflösst, ich brauche meinen Vater. Er ist der Einzige, mit dem ich über mich und über die Affäre mit Damian reden kann und der vielleicht etwas Ordnung und Klarheit in meine erschütterte Gefühlswelt bringt. Ich brauche die Gewissheit, dass ich das Richtige tue. Dass nichts Verworrenes daran ist, mit meinem Chef ein Verhältnis zu haben.
„Darf ich Sie etwas fragen?“ Der Fahrer reisst mich aus meinen Gedanken.
„Aber sicher doch.“ Wir suchen über den Rückspiegel Blickkontakt.
„Sagen Sie mir, wenn ich zu weit gehe.“
Ich nicke mit dem Kopf.
„Ist alles in Ordnung?“
Ich schlucke einen dicken Kloss hinunter. „Warum sollte es mir nicht gut gehen?“
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