Maya warf einen Blick in den Spiegel. Entsetzt weiteten sich ihre Augen. Auch sie konnte – nun, da die Haare aus dem Weg waren – den großen Bluterguss an ihrer Schläfe deutlich sehen. Sebastian beobachtete, wie ihre Finger vorsichtig über die violetten Flächen glitten. Er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Etwas Tröstendes.
„Es wird bald besser werden. Und dann bist du wieder ganz gesund.“
Maya wandte den Kopf und sah zu ihm auf. Dann, ganz langsam und zart berührten ihre Fingerkuppen sein Gesicht. Seine Narbe. Sebastian spürte einen scharfen, stechenden Schmerz in seiner Brust. Ein Schmerz, der ihm den Atem raubte und ihn wieder in die Realität riss. Er schnappte nach Luft und wich zurück. Es kostete ihn Kraft, die Lippen zu öffnen und zu sprechen. Seine Stimme klang heiser und fremd in seinen Ohren.
„Der Ausflug ist beendet. Ich bringe dich zurück ins Bett.“
Sebastian merkte, wie sein Innerstes in Aufruhr geriet. Sie hatte etwas berührt, das jenseits seiner sorgfältig gezogenen Barriere lag. Er spürte förmlich, wie sich tiefe Risse bildeten. Als er sie ins Bett brachte, registrierte er bestürzt, wie seine Hände zu zittern begannen.
„Sicher bist du jetzt ziemlich müde“, brachte er mühsam hervor. Maya lächelte ihn an.
„Danke“, sagte sie. Und mit diesem einfachen Wort fiel Sebastians Panzer vollständig in sich zusammen. Er verlor die Kontrolle.
„Ich…“, brachte er noch heraus, dann nichts mehr. Ohne sie noch einmal anzusehen floh er aus dem Zimmer und konnte erst erleichtert aufatmen, als sich die Tür hinter ihm schloss.
Schwer atmend und am ganzen Körper zitternd lehnte er sich dagegen. Musik, er brauchte jetzt dringend Musik! Fahrig durchwühlte er das CD-Regal. Es war alphabetisch sortiert. Bach. Er suchte ein bestimmtes Klavierkonzert. Als die vertrauten, regelmäßigen, planvollen Klänge durch sein Wohnzimmer drangen, beruhigte er sich allmählich. Die Musik half ihm, sich zu ordnen, brachte seine Gedanken in die richtigen Bahnen. Er stand am Fenster, starrte ins Nichts und ließ die Sonaten durch ihn hindurchfließen. Was war passiert? Was hatte ihn so aufgewühlt? War es ihr Körper gewesen? Sie hatte ihm schon einmal gestattet, sich mit ihrem Körper vertraut zu machen. Er hatte ihn mit seinen Händen und seinen Lippen erkundet, ihn genossen, seinen Duft und seine Wärme in sich aufgesogen. Doch das eben im Badezimmer war mehr gewesen. Weit mehr, weit intimer als Sex. Sie hatte ihm vertraut. Sie hatte sich ihm anvertraut. Das hatte ihn geknackt.
Sebastian atmete tief durch. Was jetzt? Schnelle, geradlinige Achtel umkreisten ihn. Vom Fenster aus blickte er in den makellosen, blauen Sommerhimmel. Es war früher Nachmittag. Sebastian ballte seine Hände zu Fäusten und wünschte sich, er könnte dasselbe mit seinen Gedanken tun. Ihre Hüften, ihre Brüste! Heilige Scheiße, er hatte ihre Brüste gewaschen und sie war nicht einmal zurückgewichen! Er war ihr zu nah gewesen. Eindeutig viel zu nah! Sein ganzer Körper spannte sich an, wie um die Wucht der Gefühle abzuwehren, die ihn zu ersticken drohte. Er musste etwas unternehmen. Jetzt gleich. Irgendetwas Greifbares. Hektisch fingerte er in seiner Jeanstasche nach seinem Handy. Er wählte blind. Nach drei endlosen Freizeichen hob Elias endlich ab. Sebastian hielt sich nicht lange mit Floskeln auf.
„Eli? Ich brauche dich heute Abend hier. So gegen halb acht? Und bring den Doc mit.“
„Was ist los?“ Elias war nicht blöd. Natürlich hatte er bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber Sebastian würde den Teufel tun und ihm davon erzählen. Das ging niemanden etwas an.
„Mein Bruder verlangt nach mir, und Maya…“ er brachte den Namen kaum über die Lippen „… sie braucht einen anderen Verband.“
„Sebastian, was ist los bei dir?“ Elias klang alarmiert.
„Kriegst du das hin? Der Doc und du, hier um halb acht?“
Eine kurze Pause am anderen Ende, dann ein Seufzen.
„Das krieg ich hin.“
Sebastian legte auf, drehte die Musik noch etwas lauter und starrte weiter in den wolkenlosen Sommerhimmel bis seine Hände nicht mehr zitterten.
Eine Zeit lang hielt Maya die Augen geschlossen. Sie schlief nicht. Selbst die Beruhigungsmittel des Docs hätten sie jetzt nicht einschlafen lassen. Es war, als würde ihr ganzer Körper summen, als hätte Sebastian eine Saite in ihr zum Klingen gebracht. Vielleicht stellte sie diese Verbindung auch nur her, weil Sebastian nebenan laut Klaviermusik hörte. Das war im Prinzip nicht ungewöhnlich. Sebastian hatte ständig Begleitmusik laufen. Die Bandbreite war groß. Doch Klaviermusik war bisher noch nicht darunter gewesen. Irgendwie passten diese auf- und abklingenden, schnellen Tonfolgen perfekt zu dem, was gerade passiert war. Oder vielmehr zu der Klarheit, die sie überkommen hatte, als sie mit Sebastian im Badezimmer gewesen war. Plötzlich war es da gewesen, dieses Gefühl. Sicherheit. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sich Maya so bewusst so sicher gefühlt. Kein Zweifel. Nichts. Maya hatte gewusst, dass er ihr nicht wehtun würde. Und nicht einen Moment war ihr der Gedanke gekommen, er könnte die Situation ausnutzen. Sie hatte ihm vertraut. Einem Mocovic, einem Lügner, einem Verräter, einem brutalen Killer. Maya zwang sich, den Namen wieder und wieder zu denken. Mocovic. Scar Mocovic. Sebastian Mocovic. Doch das änderte nichts. Sie war bei ihm in Sicherheit.
Als die Musik vor der Tür verstummte, lag sie immer noch wach. Einem Impuls folgend, schlug sie das Laken zurück und stand unbeholfen auf. Was zur Hölle war nur mit ihrer Hüfte passiert? Ihre rechte Seite war wirklich in einem miserablen Zustand. Maya sah sich um. Sie konnte sich auf dem Weg ins Wohnzimmer nirgendwo abstützen. Aber sie wollte diese paar Schritte einfach schaffen. Es ging besser als gedacht. Vorsichtig öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer und lehnte sich gegen den Türrahmen. Ha, sollte er doch mal sehen, wie es war aus so einer Pose beobachtet zu werden. Ihre Augen suchten das Zimmer nach ihm ab, konnten ihn aber nirgends entdecken. Dafür drangen aus dem Raum dahinter scheppernde Geräusche und Maya war sich ziemlich sicher, dass es sich dabei um die Küche handeln musste. Ihr fiel auf, dass das Wohnzimmer außerordentlich aufgeräumt war. Seit sie sein Bett beanspruchte, schlief Sebastian hier auf der Couch. Doch nirgends waren verknautschte Kissen oder Decken zu sehen. Der große, hohe Raum war ohnehin sehr spärlich eingerichtet. Eine ausladende, dunkle Couch mit einem niedrigen Tisch davor, ein Fernseher, die Musikanlage, ein großer, alter Esstisch mit mehreren ebenso alten Stühlen. Dafür waren beinahe sämtliche Wände bedeckt mit einfachen Regalen voller Musik und Bücher. Ordentlich sortiert und ohne jeglichen Nippes-Kram oder Pflanzen. Kein Bild an der Wand. Maya warf einen Blick zurück ins Schlafzimmer. Auch hier hing kein Bild an der weiß gestrichenen Wand. Das Schlafzimmer war sogar noch spartanischer eingerichtet. Kein Wunder, dass Maya in den vergangenen Tagen so viel gegrübelt hatte. Es gab ja im ganzen Raum – wahrscheinlich sogar in der gesamten Wohnung – nicht ein bisschen Ablenkung.
Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Sebastian war ins Wohnzimmer zurückgekehrt, eine große schwarze Tasse in der Hand. Als er sie entdeckte, erstarrte er mitten in der Bewegung und sah sie mehrere Sekunden lang nur an. In seinen Augen leuchtete etwas auf und er atmete tief durch. Maya hatte das Gefühl, ihm helfen zu müssen.
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