Langsam verschwand die Umgebung der Höhle und Winfried befand sich wieder im Seminarraum. Die Leiterin vor ihm wurde erneut sichtbar. Als sie bemerkt hatte, dass er geistig wieder zurückgekehrt war, flüsterte sie: »Danke, Azrael, dass du diese Seele auf eine Astralreise geführt hast.«
Winfried stand auf, alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Ihm fiel ein Geruch auf. Es stank gewaltig, widerwärtig, nach Fäkalien. Alle grinsten.
»Du warst wohl gerade … sehr entspannt!«, kommentierte Dietrich lachend. »Egal. So was passiert halt.« Und fragte neugierig: »Wie war's bei dir? Hat es funktioniert? Hast du herausgefunden, was du in deinem früheren Leben warst?«
Helga drängte: »Komm, erzähl schon! Warst du ein Ritter, ein Edelmann? Oder ein einfacher Bauer?«
Winfried stand stumm inmitten der Gruppe. Bis ihn ein Gefühl des Entsetzens vollkommen zerriss. In Panik flüchtete er aus dem Seminarraum.
*
Als er am nächsten Tag seinen Briefkasten geleert und Werbung aussortiert hatte, fiel ihm ein schwarz umrandeter Briefumschlag auf. Wir trauern um Dr. Manfred Weingarten, begann das Schreiben. Eine Einladung zu dessen Beerdigung. Schnell überflog Winfried einige Zeilen mit frommen Worten. Im Anschluss an die Trauerfeier, lautete die letzte Zeile, sind alle Gäste in das Restaurant ›Zum Wilden Mann‹ hinter dem Friedhof eingeladen zum gemeinsamen Leichenschmaus. Sein Blick blieb auf dem letzten Wort hängen. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Mit Entsetzen erinnerte er sich an seine Vision.
Gernot hatte ihn angerufen, er wollte ihn unbedingt treffen und von seiner neuen Geschäftsidee erzählen.
Sie saßen in seinem Lieblingscafé und Gernot begann, von seinem neuen Projekt zu erzählen. »Winfried, geschäftlich werde ich richtig durchstarten. Ich habe meinen Job gekündigt und mache mich jetzt selbstständig.«
Als die Bedienung erschien und fragte: »Was bekommen die Herren?«, zischte Winfried Gernot zu: »Keine dummen Sprüche diesmal!« und wandte sich der Kellnerin zu: »Zwei Bier bitte!« Sie notierte kurz die Bestellung und blickte auf: »Oh … ihr seid es wieder!« und eilte davon.
»Das hört sich ja grandios an«, reagierte Winfried auf den Bericht seines Freundes. »Ich denke ja auch, dass es viel spannender ist, selbst etwas auf die Beine zu stellen, statt im Büro zu sitzen und jeden Tag sein Sitzfleisch zu quälen, bis Feierabend ist.«
»Ein bisschen abwechslungsreicher war mein Job schon. Damit werde ich auf die Dauer aber nicht reich. Jetzt werde ich richtig Vollgas geben, mit meinem Energy-Drink! Monatelang habe ich recherchiert und Marktchancen analysiert. Es fehlt im Prinzip nichts, bis auf …« Er hielt inne. Und freute sich im nächsten Moment: »Ah, da kommt unser Bier!« Die Kellnerin stellte zwei Gläser auf den Tisch und verschwand wieder.
»Was fehlt denn noch?«, hakte Winfried nach.
»Ein durchschlagender Name. Und ein Rezept für das Getränk.«
Winfried überlegte einen Moment und äußerte sich skeptisch: »Also. Wenn du noch keinen Namen hast und noch kein Rezept für das Getränk, was hast du denn bisher schon?«
»Das Rezept ist eigentlich erstmal egal. Die Zutaten von Energy-Drinks sind simpel: Wasser, Zucker, Zitronensäure und fertig. Und natürlich die entscheidende Zutat: Taurin. Das hört sich nach einem wilden Stier an, darauf stehen die Kids. Ich habe schon feste Verträge mit Produzenten abgeschlossen, die meinen Energy-Drink herstellen werden. Nun das Problem: Alle guten englischen Namen, die mir einfallen, sind schon reserviert. Meine Idee war nun, einen deutschen Begriff aus den dunklen Zeiten der Diktatur zu verwenden, den jeder im Ausland kennt. Und der Clou, den ich mir ausgedacht habe: Für eine ganze ›Stalinorgel‹ mit 20 Dosen - das ist viel cooler für die Kids, anstelle von ›Palette‹ - erhält man eine Führerbibel gratis.«
»Das ist absolut illegal! Der Druck des Buches ist doch verboten! Was du vorhast, ist strafbar!«
»Bald nicht mehr. Das Copyright liegt beim bayrischen Staat. Und der lässt es nicht drucken, seit das Recht zur Vervielfältigung mangels Erbberechtigten an ihn übergegangen ist.« Er fuhr grinsend fort: »Zumindest hat sich bisher niemand gemeldet, der so ein Erbe antreten wollte.« Er zog eine verschwörerische Miene: »Ende 2015 verfällt das Autorenrecht und dann darf jeder dieses Machwerk drucken. Die Beigabe zur Energy-Brause ist als zusätzlicher Marketinggag gedacht. Erst muss ich einen durchschlagenden Namen finden, damit die unzähligen Werbemillionen nicht wirkungslos verpuffen.«
»Wahrscheinlich führt so ein Angebot zu einem öffentlichen Skandal«, spekulierte Winfried, »der durch alle Medien geistert. Schlagartig kennt jeder diesen Namen.«
Gernot nickte bestätigend: »Und so kann ich die teure Werbung sparen.«
»Der Skandal klappt bestimmt, aber mit dem Erfolg …«, äußerte Winfried sich skeptisch und lachte: »Wie wäre es mit noch etwas älterem, vielleicht von den Gebrüdern Grimm: ›Rumpelstilzchen‹?«
Sein Gegenüber stierte ihn begeistert an und jubelte: »Winfried, du bist genial! So jemand könnten wir im Marketingmilieu brauchen. Wo alle erst über eine Idee gelacht haben und meinten, die ist ja komplett hirnrissig, da entstanden die wirklich bahnbrechenden Erfolge. Super! Jetzt fehlt nur noch das Rezept für den Drink.«
Winfried nahm einen Schluck aus seinem Bierglas und setzte es sofort wieder ab, als ihm eine Zutat in den Sinn kam. Ihm fiel auf, dass sein Bier heute anders schmeckte als sonst. Ein Gefühl von Übelkeit machte sich in seinem Magen breit.
Die Kellnerin erschien wieder und fragte: »Alles in Ordnung, die Herren? Haben sie noch einen Wunsch?« Als sie bemerkte, dass Winfried angewidert auf sein Bierglas starrte, stotterte sie: »Entschuldigung, ich habe die Gläser vertauscht …« und eilte von dannen.
Gernot wunderte sich: »Die ist komisch. Wir hatten doch beide das gleiche Bier bestellt.«
»Und mein Bier schmeckt seltsam«, merkte Winfried an. »Außerdem ist es viel zu warm.«
*
Winfried hatte sich von seinen Kumpels überreden lassen: da er nun dem Kreis der fast 50-jährigen angehören wird, müsse sein 41. Geburtstag doch angemessen gefeiert werden. Er traf sich mit Gernot, Ralf sowie Dieter und stellte ihnen seinen Ex-Kollegen Waldemar vor, mit dem er immer noch Kontakt pflegte und den er ebenso zum Feiern eingeladen hatte.
Der milde und sonnige Tag fand seinen Ausklang in einer Fußballkneipe. Den frühen Abend verbrachte die Gruppe bei meterweise Bier, dabei wurde hitzig diskutiert, Job war das zentrale Thema.
»Es läuft« Desinteressiert reagierte Winfried auf die Frage, wie sich seine Karriere entwickelt habe. Nickend wiederholte er: »Es läuft, ja, es läuft«, griff zu seinem Bierglas und trank es in einem Zug leer.
Später fuhr Waldemar alle mit seinem Auto - eher einem Wrack, das die Anderen erst mit skeptischem Blick betrachteten, aber dennoch einstiegen - in das Amüsierviertel und parkte es in einer Tiefgarage. Sie liefen zu einer Großdisko, diskutierten über den überhöhten Eintrittspreis: 16 Euro pro Person, entschieden sich - schließlich waren sie nun mal da - zu zahlen und waren bereit, sich in das Gefecht zu stürzen.
Als sie durch das Tor in die Halle eintreten wollten, wurden sie von einem Security-Mann aufgehalten. »Stopp! Ihr könnt nicht rein. Jetzt noch nicht«
»Wieso?«, fragte Ralf entgeistert und bekam zur Antwort: »Man-Strip-Show. Ihr müsst noch eine halbe Stunde warten.«
Aus der Halle war lautes Wummern zu hören, in regelmäßigen Zeitabständen wiederholte sich weibliches Gekreische.
»Hättet ihr uns nicht einfach vor dem Bezahlen informieren können?«, brummte Ralf, »wir wären sofort am Eingang abgebogen und hätten uns auf den Weg in eine andere Disko gemacht.«
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