»Beruhige dich doch, Doktor«, redete Winfried beruhigend auf ihn ein, tätschelte ihm den Rücken und ließ sich erweichen. »Ok, weil du es bist. Aber nur zehn Euro. Ausnahmsweise. Und teile dir das Geld gut ein!« Er zückte einen Geldschein.
Freudestrahlend riss Dr. Weingarten ihm den Schein aus der Hand, eilte zum Wechselautomaten und saß kurz darauf vor seinem Automaten. Buchstaben leuchteten darauf: ›Die lustigen Schlümpfe‹.
Winfried beobachtete seinen ehemaligen Kollegen, der wie besessen eine Runde nach der anderen spielte. Von den 10 Euro war mittlerweile nur noch die Hälfte verblieben, schnell schrumpfte es auf 4, 3 und schließlich 2 Euro. Den Blick starr auf den Automaten gerichtet, drückte der promovierte Mathematiker ›Neues Spiel‹ und die Zylinder begannen zu rotieren. Die Bilder rauschten vorbei, wurden langsamer und blieben stehen: 2x Erfinderschlumpf, 3x Überraschungsschlumpf. Das Feld ›Risiko‹ blinkte. Der Doktor wählte den Knopf ›Einsatz erhöhen‹ und das nächste Spiel begann. Bilder rotierten und das Guthaben schrumpfte auf wenige Cent.
Winfried versuchte den besessenen Spieler von seinem Wahn abzubringen. »Doktor, du musst einen Zeitpunkt finden, an dem du aufhören kannst!« Der Angesprochene zeigte jedoch keine Reaktion, sein starrer Blick war auf die vorbeifliegenden Bilder fixiert. Abermals drückte er ›Stopp‹ und die Zylinder rotierten langsamer. Als sie zum Stillstand kamen, zeigten sie fünf blau-rote Figuren. Eine Sirene heulte, das Display fing wild an zu blinken und große Buchstaben verkündeten: ›Jackpot! 17855 Euro gewonnen!‹
Wie paralysiert saß der promovierte Mathematiker vor dem Automaten. Seine Augen weiteten sich. Langsam löste er sich aus der Erstarrung, raufte die Haare und schrie: »Jackpot! Ich fasse es nicht! Fünfmal Papa Schlumpf!« Er kippte seitlich, fiel vom Sitz und blieb reglos am Boden liegen.
Eine Viertelstunde später waren zwei Sanitäter bei ihm sowie ein Notarzt, der Wiederbelebungsmaßnahmen durchführte.
Der Arzt räusperte sich. Traurig verkündete er den Anwesenden: »Es tut mir leid. Der ist endgültig hinüber. Das war wohl zu viel für ihn« und fragte, zur Angestellten an der Kasse gewandt: »Passiert so etwas öfter?«
»Nein«, entgegnete sie, »es ist auch das erste Mal, dass jemand den Jackpot geknackt hat.«
»Das muss Ihnen nicht leid tun«, mischte Winfried sich ein, »das war das erste Mal in seinem Leben, dass er Glück hatte.«
Der Arzt blickte ihn entrüstet an. Sein Ärger verflog jedoch, als er den am Boden liegenden Dr. Weingarten und seinen glücklichen Gesichtsausdruck betrachtete. »Vielleicht«, sagte er nickend, »ist er tatsächlich im richtigen Moment gegangen.«
Ein Flyer, der in der Spielothek auslag, weckte Winfrieds Neugier. »Was kommt nach dem Tod?«, prangte darauf in großen Buchstaben. Eine Frage, die er sich mittlerweile häufiger stellte. Er griff nach einem der Faltzettel, die für ein viertägiges Rückführungsseminar warben und las Kurzberichte von Kursteilnehmern, die über ihre früheren Leben berichten.
Interessant! - dachte er.
Samstag am späten Nachmittag begann die erste Sitzung im Wohnzimmer eines geschmackvoll eingerichteten Privatappartements, die Wände waren tapeziert mit Zeichnungen, die Sternzeichen interpretierten oder Engel in weißen Roben darstellten. Die Wohnung war zugestellt mit Skulpturen aus exotischen Ländern wie Indien, Persien und China. Die Bewohnerin schien vernarrt in das Sammeln von fernöstlichen Kunstwerken zu sein.
Vier Gäste waren eingetroffen und saßen im Halbkreis vor der Seminarleiterin. Nun, da die Runde vollzählig war, trat sie vor die Teilnehmer und eröffnete die erste Sitzung.
»Willkommen bei meinem Rückführungsseminar. Zuerst zu meiner Person: ich bin ein Medium und stehe in regelmäßigem Kontakt zu einem Todesengel. Habt keine Angst: vor den Todesengeln muss sich niemand fürchten, denn es sind gutmütige Geister. Sie leben in beiden Welten, in unserer und in der Astralwelt. Sie begleiten uns, wenn wir diese Welt verlassen und helfen uns bei der Suche nach einem neuen irdischen Körper, in dem unsere Seele ein neues Zuhause finden kann. Sie geleiten uns bei jedem Tod genauso wie beim Schritt in unser neues Leben.«
Sie blickte nacheinander jedem Einzelnen tief in die Augen und fuhr fort: »Eine Astralreise bedarf guter Vorbereitung. Zuerst müssen wir lernen, loszulassen und uns zu entspannen. Wenn wir uns diese Technik angeeignet haben, Helga, Winfried, Dietrich und Irmtraud, können wir unseren Engel anrufen und ihn bitten, uns auf der spirituellen Reise zu begleiten. Wir treffen uns in meiner Wohnung insgesamt viermal. Heute Abend und die nächsten beiden Male werden wir Yoga und Entspannungstechniken trainieren, solange müsst ihr euch in Geduld üben. Beim vierten und letzten Treffen wird jeder die Möglichkeit einer Rückführung bekommen. Ob sie gelingt, liegt bei euch und in den Sternen.«
Die ersten drei Treffen verbrachte die Gruppe mit leichten Übungen für den Körper, während gregorianischer Gesang, der helle Klang von Kristallen und das ruhige Plätschern von Wasser sie entspannte.
Am vierten Tag verkündete die Leiterin freudig: die Vorbereitungen hätten alle erfolgreich gemeistert, nun wären sie bereit, sich der Rückführung zu widmen. Ihr Gesicht wurde ernst und sie mahnte: »Es kann sein, dass ihr schreckliche Erlebnisse bei eurer Reise haben werdet und ihr euren letzten Tod nochmal erlebt. Was ihr sehen werdet, kann ich nicht beeinflussen. Dies hängt alleine davon ab, was der Engel euch zeigen will. Manchmal lässt er uns sogar einen Blick in die Zukunft werfen.«
Die erste Teilnehmerin wurde nach vorne gebeten und sie platzierte sich im Schneidersitz vor der Kursleiterin, die nun begann, vor ihren Augen ein Pendel zu schwingen. Im Hintergrund erklangen leiser Mönchsgesang und die dumpfen Töne einer Marimba. Nachdem die Teilnehmerin eine Weile ruhig dagesessen hatte, sank ihr Kopf langsam auf ihre Brust, sie atmete entspannt, ihre Miene wirkte losgelöst und viele Minuten vergingen, während sie mit einem zufriedenen Lächeln reglos verharrte. Nach einer Weile atmete sie tief durch, blickte die Seminarleiterin glücklich an und berichtete: »Es war wunderschön. Ich war Prinzessin, die schöne Charlotte von Böhmen, lebte in der Burg meines Vaters in der goldenen Stadt und am königlichen Hof. Ich wünschte, ich wäre noch dort.«
Die Teilnehmer murmelten erfreut und applaudierten, behutsam und leise mit den Fingerspitzen, um die meditative Stimmung nicht zu stören.
»Es freut mich jedesmal, wenn die Teilnehmer bei Rückführungen solche schönen Erinnerungen haben wie Helga«, sprach die Kursleiterin fröhlich. »Dietrich, willst du es als Nächster versuchen?«
»Gerne!« Gut gelaunt setzte sich der Angesprochene wie seine Vorgängerin im Schneidersitz vor das Medium. Eine Weile saß er wortlos da, bis sich sein Haupt senkte und er ruhig schlummerte. Nach einiger Zeit hob er seinen Kopf und gab seine Erlebnisse wieder: »Ich war ein Edelmann, hatte in einem Turnier einen Ritter nach dem anderen besiegt, viele Lanzen gebrochen und am Ende den Sieg für meinen großartigen König davongetragen.«
Nun war Winfried an der Reihe. Er begab sich nach vorne, setzte sich, und die Leiterin stimmte einen Singsang an. »Mein Engel, nimm Winfried in die Vergangenheit mit und zeige ihm sein früheres Leben. Löse diese Seele von seinem Körper, führe ihn in den Astralraum und weise ihm den Weg in die vierte Dimension. Ich rufe dich an, Azrael.«
Azrael? So hieß doch der Kater des Hexenmeisters bei den Schlümpfen, dachte Winfried. Er fühlte sich jedoch positiv entspannt und sein Geist ging auf eine Wanderung.
Er fand sich in einer Höhle wieder, zusammen mit anderen Wesen, die schmutzig und am ganzen Körper behaart waren, starken Körpergeruch ausströmten und im Halbdunkel in einem Kreis saßen – um die Reste eines Körpers. Die Wesen nagten an Knochen. Winfried führte seine Hand zu dem Schmaus in der Mitte, griff nach einem der Gliedmaße und riss es mit einem kräftigen Ruck heraus, führte es zum Mund und nagte daran. Er betrachtete das, was ihre gemeinsame Mahlzeit darstellte und erkannte: es war ein Mensch. Oder das, was von ihm übrig war. Dessen Kopf war noch nicht abgenagt und vollständig. Winfried meinte, dieses Gesicht von irgendwoher zu kennen. Es hatte Ähnlichkeit mit Dr. Weingarten! Während sie wortlos und kauend verbrachten, stellte eines der Wesen ihm offensichtlich eine Frage: »Ugh?« - woraufhin er im Kauen innehielt und antwortete: »Ugh!« Die anderen Wesen begannen nun ebenso, sich aufgeregt zu unterhalten: »Ugh, Ugh!« Es schien, als stimmten sie über etwas ab. Jemand von kleinerer Statur fragte verhalten: »Ugh?« Das größte der Wesen und das behaarteste sprang auf, trommelte auf seine Brust und brüllte laut: »Ugh!« Ein lautes Geräusch folgte, jemand entledigte sich lautstark einiger Körpergase.
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