wärmsten Gruß allen Freunden unserer Heimat und
ihrer Bewohner.
I n n s b r u c k , den 30. Januar 1852.
Ignaz Vinc. Zingerle.
Fußnoten
1 Als Fortsetzung dieser Sammlungen sind erschienen:
Kinder- und Hausmärchen. Regensburg, (II. Bd.)
Fried. Pustet 1854. – Sitten, Bräuche und Meinungen
des Tiroler Volkes. Innsbruck, Wagnersche Universitätsbuchhandlung
1857. – Sagen, Märchen und Gebräuche
aus Tirol. Innsbruck, Wagnersche Universitätsbuchhandlung
1859.
Vorrede zur zweiten Auflage.
Nach achtzehn Jahren erscheint dies Büchlein in
zweiter Auflage und ich wünsche, daß es in dieser
verbesserten und vermehrten Ausstattung wieder jener
freundlichen Aufnahme sich erfreuen möchte, die ihm
beim ersten Erscheinen gespendet worden ist. Zwei
Nummern der ersten Auflage Nr. 10: »Von den Salinger
Fräulein« und Nr. 40: »Thaddädl« wurden weggelassen,
dagegen kamen dreizehn neue Märchen hinzu.
Unter diesen befinden sich vier aus den deutschen Gemeinden
L u s e r n a und P r o v e i s in Welschtirol.
Damit aber dieser Landesteil in vorliegender Sammlung
auch vertreten sei, gebe ich zum Schlusse die
Märchen: »Die drei Pomeranzen« und »Das Mädchen
ohne Hände« aus meines Freundes Chr. Schneller
vortrefflichem Buche: »Märchen und Sagen aus
Welschtirol. Innsbruck, Wagnersche Universitätsbuchhandlung,
« das ich allen Freunden alpiner Volkspoesie
bestens empfehle.
W i l t e n , am 9. April 1870.
Ignaz Vinc. Zingerle.
Vorwort zur dritten Auflage.
Die neue Ausgabe der Märchen unseres Vaters unterscheidet
sich inhaltlich nicht von der 1870 bei Amthor
erschienenen, zweiten Auflage, doch ist sie mit
Bildern ausgestattet, die ein Tiroler Künstler, der
Land und Leute kennt, geliefert hat. Es ist mit dieser
Zugabe einem von verschiedenen Seiten geäußerten
Wunsche Rechnung getragen worden. Die Jugend, die
einen guten Teil der Leser bildet, ist jetzt anspruchsvoller
als in früheren Zeiten, wo sie mit der Erzählung
zufrieden war und die kindliche Phantasie selbst die
Bilder dazu schuf.
Möge das Buch im neuen Gewande bei jung und
alt wieder jene freundliche Aufnahme finden, die ihm
schon bei seinem ersten Erscheinen zuteil geworden
ist. Auch die Altmeister Jakob und Wilhelm Grimm
begrüßten damals die ebenfalls von zwei Brüdern gesammelten
Tiroler Märchen mit großer Freude und
letzterer ließ sie, wie dessen Sohn Professor Hermann
Grimm unserem Vater berichtete, mit dem schönen
Einbande seiner Lieblingswerke versehen.
Während die Forscher unablässig bemüht sind, die
Schätze der Volkspoesie zu heben und zu sichern,
macht sich im Volke, das sie benützt und das sie
hüten soll, bedauerlicherweise ein Schwinden des In-
teresses bemerkbar. Nicht nur alte Bräuche kommen
ab, sondern auch die alten Lieder und Erzählungen
geraten mehr und mehr in Vergessenheit. Es muß
darum gewünscht werden, daß der Sinn für das alte
poetische Erbe wieder geweckt werde, und dazu trägt
hoffentlich auch dies Buch bei, das den Leser aus dem
nüchternen Alltagsleben für ein Weilchen in die poesievolle
Märchenwelt versetzt.
I n n s b r u c k , 9. November 1910.
Wolfram und Oswald von Zingerle.
1. Schwesterchen und Brüderchen.
Es war einmal ein Schwesterchen und ein Brüderchen.
Das Schwesterchen war brav und folgsam und betete
fleißig in der Kirche, das Brüderchen ging aber seine
Wege, war störrisch und schnippisch und machte seinen
Eltern nur Kummer und Verdruß. Einmal gingen
beide in den dunkeln Wald hinaus Erdbeeren lesen,
Sie kamen immer tiefer und tiefer in den Forst hinein.
Das Brüderchen aß und aß voller Gier, ohne jemals
an Gott oder an die Mutter zu denken das Mädchen
hatte aber ein Körbchen mitgenommen und las die
roten Beerlein in dasselbe hinein, um sie der lieben
Mutter zu bringen. Wie sie so beisammen im Walde
waren und Schwesterchen sammelte und Brüderchen
aß, kam plötzlich ein schöne Frau. Ein wunderbares
Licht umfloß sie und die Krone auf ihrem Haupte
glänzte wie die Sonne. Das Schwesterchen ließ das
Sammeln und stand ehrerbietig auf, als die schöne
Frau kam, das Brüderchen rupfte aber in den Erdbeeren
fort, ohne sich an etwas anderes zu kehren.
»Was machst du da, mein Kind?« sprach die schöne
Frau lächelnd zum Mädchen.
»Ich pflücke Erdbeeren, um sie meiner lieben Mutter
zu bringen« antworte das Schwesterchen errötend;
denn es schämte sich vor der schönen Frau.
Die Frau lächelte wieder und drückte dem Schwesterchen
ein Schächtelchen, das aus reinem Golde
war, in die Hand und sprach: »Mein Kind sei brav!
Wenn du das Schächtelchen öffnest, so gedenke meiner.
Wir sehen uns einst wieder.« Lächelnd ging die
Frau mit der funkelnden Krone weiter und kam zum
Brüderchen, das in Hast und Wut Erdbeeren aß wie
das liebe Vieh.
»Was machst du, Bübchen?« sprach die Frau ernst
und doch milde.
»Schmeck1 es, wenn du es wissen willst«, erwiderte
störrisch und trotzig der wilde Bursche. Der schönen
Frau kugelten zwei Tränen über die feinen Wangen
und betrübt gab sie dem ungezogenen Knaben ein
schwarzes Kästchen. »Gedenke meiner, wenn du es
öffnest«, sagte sie wehmütig und verschwand leuchtend
hinter den Bäumen wie die Sonne, wenn sie hinter
den Bäumen niedersinkt; die schöne Frau war aber
die Gottesmutter.
Was mochte aber in dem Schächtelchen sein? Das
wirst du gleich hören, mein Kind! Das Brüderchen riß
gleich voll Neugierde den Deckel auf, und sieh – aus
dem schwarzen Schächtelchen schlangen sich zwei
schwarze, schwarze Würmer heraus und die wurden
immer länger und länger, umwickelten endlich das
Brüderchen und führten es immer weiter in den finstern,
finstern Wald hinein, so daß es nie und nimmer
gesehen wurde.
Das Schwesterchen dachte sich aber: »Bevor ich
das Schächtelchen öffne, muß ich es der Mutter zeigen;
oh, und die wird eine Freude haben!« In diesen
Gedanken pflückte und pflückte es Erdbeeren, bis das
Körbchen voll war, und wollte dann zur Mutter heimkehren.
Beim Weggehen wollte es aber auch das Brüderchen
bei sich haben, obwohl es böse war. Schwesterchen
rief aus voller Kehle, aber Brüderchen gab
keine Antwort. Dann suchte das Mädchen rechts und
links und links und rechts, aber nirgends fand es eine
Spur vom Brüderchen, bis es anfing zu dunkeln und
es im Walde unheimlich wurde.
»O, vielleicht ist das Brüderchen schon zu Hause
oder es will mich nur necken,« dachte sich betrübt das
Mädchen und ging mit dem vollen Körbchen und dem
goldenen Kästchen dem Hüttchen zu, in dem die Mutter
wohnte. Es fand aber nicht das Brüderchen zu
Hause, und als dieses lange, lange nicht kam und
Mutter und Schwesterchen darauf warteten, erzählte
das Mädchen von der schönen Frau, die es gesehen,
und zeigte der lieben Mutter das Kästchen. »Du tust
es mir wohl aufbehalten, liebe Mutter!« bat das Kind.
»Aber zuvor darf ich wohl schauen, was darinnen
ist?« fragte das Mädchen und blickte forschend der
Mutter ins blaue, treue Auge.
»O ja!« sprach die Mutter, und das Mädchen öffne-
te das Schächtelchen, und sieh! – zwei Engelein
kamen heraus und wurden größer und größer, nahmen
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