Unser Franzose schaut in die Runde und landet am Ende bei mir. Samir sieht Forbach und mich gelangweilt an. Ihn interessiert nur, einen Hubschrauber nutzen zu können.
»Ein Ablenkungsmanöver. Ohne Gefahr für die Piloten. Außer Reichweite sich sehen lassen. Sie können für Aufregung unter den Wachleuten sorgen. Sie müssen nur sehr, sehr laut sein. Sie können etwas abwerfen, das knallt.« Samir lächelt böse. Ein fast heimlicher Fingerzeig zu den aufgereihten Treibstofffässern gibt lässig darüber Auskunft, was der Targi unter einem knallenden Ablenkungsmanöver versteht.
Bertrand Forbach macht ein betretenes Gesicht. Könnte es wirklich so einfach sein, fragt es. Habe ich dafür einen guten Kumpel mit einer Waffe bedroht? »Das ist ein Vorschlag«, meint er.
Alan, nach wie vor beleidigt, reagiert nicht auf den Einwurf von französischer Seite. »Ich kann verstehen, wenn es um Kinder geht ...«
»Nein, das können sie nicht!«, unterbreche ich ihn. Beredet das. Woanders. Draußen. Samir will Männerarbeit machen. Soll er. Nimm alle mit.«
Samir nickt grimmig. Stumm trollen sich die Männer.
Ich bin froh, endlich mit den Kindern alleine zu sein, ganz gleich ob es in der nach Benzin stinkenden Luft eines alten Transporthubschraubers ist.
Claude schüttelt den Kopf und wedelt mit einer Hand den Männern hinterher, von denen der letzte gerade aus der Maschine steigt.
»Ja, wir sind allein«, bekräftige ich.
Claude setzt mir in Zeichensprache auseinander, was er will, allerdings ist er viel zu schnell für mich.
»Langsamer, bitte.«
»Auch raus«, gibt er mir zu verstehen.
Pascale hakt sich bei Claude unter und tastet nach einer Pfote von Zet. Dieser reicht sie ihm, nachdem er sich mit einem hektischen Blick meine Versicherung geholt hat, dass ich es ihm erlaube. Er braucht sie eigentlich nicht. Die völlig fremde Umgebung und der irritierende Geruch innerhalb des Sikorskys mögen an dem Verhalten schuld sein.
»Gestank«, signalisiert Claude.
Unsere kleine Prozession schafft problemlos den Ausstieg hinein in ein merkwürdiges Licht vom Horizont her, eine schwefelgelbe Aura strahlt aus der Ferne. Ich breite eine Decke auf dem Boden aus, damit die Jungen sich setzen können.
Claude bleibt stehen. Wieder hebt er zur wilden Übermittlung der Sprachsymbole an, und wieder fordere ich ihn dazu auf, langsamer zu gestikulieren. Die Fragen, die darin liegen, sind unangenehm. »Ist dieser Mann Césars Vater? Ist er? Warum hat er dann seinen Sohn entführt? Warum? Mama? Warum? Antwortest du nicht?«
Die Kinder haben die Zusammenhänge besser erfasst, als ich gedacht habe. Womöglich haben sie sich untereinander in einer Geheimsprache ausgetauscht, die mir verborgen geblieben ist. Ich sehe, wie es hinter seinem verstörten Gesichtsausdruck arbeitet.
»Wenn das Césars Vater ist? Warum? Mama?«
Pascale ist vor uns auf dem Boden, in eine weitere Decke gehüllt und an Zet geschmiegt. Er horcht unserem wortlosen Dialog, dem Rascheln unserer Kleidung, dem zeitweiligen Aneinanderreiben unserer Hände und wartet den stummen Disput zwischen seinem Bruder und mir geduldig ab.
»War Saloua meine Mutter? Mama? War sie? Saloua?«
Ich werde fortgespült. Überschwemmt von Gefühlen. Der Nachdruck in Claudes Worten hämmert gegen meine inneren Barrieren. Ich habe diese Fragen offen gelassen. Gerne offen gelassen. Keine tatsächliche Familie. Keine wirkliche Heimat. Keine Rückkehr.
»Saloua?«, entschlüpft es mir laut.
»Er möchte Gewissheit. Du bist unsere Mama. Er möchte nur wissen, ob sie ihn geboren hat.« Pascale markiert den Weisen aus dem Morgenland, das ovale Antlitz unter der Decke hervorlugend.
Ich antworte in Zeichen und mit ausgesprochenen Worten. »Ich denke, ja. Saloua hat es nie direkt gesagt. Sie hat nie zu mir gesagt, Claude sei ihr Sohn. Sie sagte, sie wolle um deine Fähigkeiten, ihres Sohnes Fähigkeiten wissen. Aber sie hat sich immer um eine klare Aussage herumgewunden. Es hätte sein können, dass sie dich als Sohn ihres Volkes tituliert hat. Was auch stimmt. Aber ...«
»Ja?«, fragt Pascale viel zu erwachsen.
»Ich möchte nichts behaupten. Nur weil es sein könnte. Weil du es vielleicht möchtest.« Ich hocke mich vor die beiden Jungen hin.
Vau schiebt sich außergewöhnlich schnell zwischen Claude und mich. Habe ich ein befürchtetes Misstrauen heraufbeschworen?
»Meine Eltern«, sagt Pascale unsicher, »ich kann mich an den Tag erinnern, als ich zu dir kam.«
Meine Augen füllen sich mit Tränen.
»Sonst ist da nichts mehr. Von damals. Ein böses Wort. Mehr böse Worte an dem Tag. Dann war ich bei dir. Da fing es an.« Pascale zögert, da Claude Zeichen auf seinem Unterarm malt. Pascale unterbricht den kleinen Bruder. »Er hatte keinen Übergang. Ohne zu wissen, was geschah. Keine Wut. Man hat ihn nur weggegeben.«
Kapitel 4: Willkommen in Arlit!
[Eddie Trick]
Warum erinnert Pascale mich, so wie er da sitzt, an einen kleinen Siddartha? Innerlich gewappnet. Aus sich selbst zufrieden. Als ich um die Ecke komme, schnappe ich noch Wortfetzen auf. Meine Ohren sind so schlecht nicht. Pascale spricht von einer plötzlichen Familie.
Nathalie dreht sich zu mir um.
»Ich wollte«, sage ich unbewusst leise, »nicht stören.«
»Bitte«, erwidert Nathalie, »bleib nur.«
Ich stecke die Hände unter die Achseln. Die eine vorsichtiger als die andere. »Verdammte Kälte.« Ohne zu stören – glaube ich – beobachte ich die Gruppe von außen, ganz wie ein Konrad Lorenz seine Gänschen. Die beiden großen Affen klammern sich an den Kaftanen der Kinder fest. Wo der Kleinste der Primaten geblieben ist, kann ich erst sagen, als sich unter dem Stoff auf Pascales Brust eine merkwürdige Rundung abzeichnet. Ich bereite mich auf das Ausbrechen eines Alien-Babys vor. Der Schwarze Kapuzineraffe richtet sich halb auf, sein Kopf sucht die Halsöffnung. Pascale streicht dem winzigen Bündel wie einem Baby, das ein Bäuerchen machen soll, über den Rücken. Plötzlich ist da dieser familiäre Moment, an dem ich denke: Mann! Das ist stark! So sieht es in der Tat aus! Die Seifenopern hatten doch recht! Es gibt diesen Zusammenhalt wirklich!
Samir crasht mit seiner Wirklichkeit dazwischen, taktlos, wortlos, ganz die Wüstenmannversion eines gesandstrahlten Tekkens. Der Targi hat seine Handflächen bandagiert. Dann der geharnischte Befehl: »Aufbrechen!«
Mühsam rappele ich mich auf. Nicht so leicht, wenn man krampfhaft mit einer Hand Berührungen zu meiden sucht.
Samir teilt uns in mehrere kleine Gruppen auf. »Arbeiter. Rotten sich niemals zusammen. Keiner will es als Armee aussehen lassen. Die Wachen könnten schießen. Die kel tamasheq machen Söldner nervös.«
Da ich ihre kämpferischen Fähigkeiten aus nächster Nähe begutachten durfte, unterschreibe ich das blind. Wir marschieren dahin. Richtung Arlit. Unser langer Marsch, so punktuell im Wüstensand, führt bald zur wundersamen Vermehrung. Hinter unserer lockeren Kolonne sehe ich mehr und mehr Staubwolken langsamer Fahrzeuge aus der kleinen Ortschaft Akokan streben. Auf dem Weg zur Arbeit, zum Markt, mit Tauschobjekten, Nahrungsmitteln oder leer, weil die Leute einkaufen wollen. Ein ganz normales Bild an einem kriegsfreien Tag irgendwo in Afrika.
Samir hat den Jungen angeboten, sie tragen zu lassen.
Pascale hat bloß auf seine eigentümlich blinde Art gelächelt und ein schlichtes »Nein« hintangestellt. Claude, dem das Angebot erst von Nathalie übersetzt werden musste, tat mit kindlicher Entrüstung einen Schritt zurück und winkte so heftig ab, dass es ihn durch die eigene Wedelei fast von den Beinen riss. Und so passt sich unsere Marschgeschwindigkeit den Kindern an. Ist aber nicht der Schneckengang, den ich befürchtet habe.
Samir legt mir eine Hand auf die Schulter, zieht mich freundlich und bestimmt auf die Seite. In einem Beutel über seiner Schulter klappern ein paar Behälter mit Wasser und Nahrung. Und Pistolen. Er zeigt in den rückwärtigen Raum. Die Form des aufgewirbelten Drecks verändert sich und wird von etwas Schnellem unterfüttert. Zwei kleine Umrisse von Geländewagen quellen regelrecht aus der qualmenden Suppe. Zu weit weg, um ihre Zugehörigkeit identifizieren zu können.
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