Sajan starrte den Medic ungläubig an. Dann schüttelte er mehrere Male den Kopf und ging wieder neben Rejs Kopf in die Hocke. Er warf dem Arzt einen scharfen Blick zu und piekte mit dem Finger in seine Richtung. "Erkundigen Sie sich! Erkundigen Sie sich, ob das zulässig ist! Und hören Sie auf, solchen Schwachsinn zu reden!" An Rej gewandt meinte er dann: "Der spinnt doch!"
Noah ignorierte die Beleidigung und widmete sich übertrieben intensiv dem Display des Scanners. Es war eine Gratwanderung. Er selbst hatte durch die Terrorakte der Song keine Angehörigen oder ihm bekannte Personen verloren, aber die Medien hatten ihm genug von den Taten der Widerstandsbewegung gezeigt. Er hatte von der Sache des Energieverteilers gehört und der Song-Kommendan hatte in mehreren Ansprachen und öffentlichen Forderungen gezeigt, dass sie nicht vor hatten, ihren extremen Kurs zu ändern. Stets war er von seinem Standpunkt nicht auch nur eine Haaresbreite zurück gewichen, war felsenfest in seinen Forderungen geblieben. Zwar bedauerte wohl auch er die Kollateralschäden, aber sie hatten ihn nicht dazu bringen können, die terroristischen Handlungen gegen ThanaVelu und die Regierung von Xiantiao einzustellen. Und diese Härte, die er den Opfern dadurch entgegen gebracht hatte, fiel nun auf ihn selbst zurück.
Aber gleichzeitig sah Noah auch einen Menschen vor sich, der durch die Hölle gegangen war und nun noch weitere Höllentage bis zu seiner Exekution vor sich hatte. Und der Medic war sich auch darüber bewusst, dass eine solche Härte gegenüber anderen immer eine Ursache hatte. Einen Quell von voraus gegangenem eigenem Leid.
An sich selbst hatte er beobachten müssen, wie durch fortwährende Qualen aus einem freundlichen hilfsbereiten Mann, ein in sich zurück gezogener kalter Mensch geworden war, der für den Staat nicht nur als Mediziner, sondern auch als Folterer arbeitete. Von dem einst selbstlosen, aufgeschlossenen und sympathischen Assistenzarzt war nicht mehr viel übrig geblieben.
"Ich schicke eine Anfrage", meinte er schließlich, um auf einen versöhnlichen Kurs mit dem Pfleger zu kommen. Eine Zusammenarbeit mit ihm konnte schwierig werden, wenn sie sich nicht wenigstens einigermaßen verstanden.
"Tun Sie das", pflichtete ihm Sajan unwirsch bei und erhob sich wieder. "Lassen Sie uns weiter machen, damit wir endlich auf unsere Zelle kommen."
Es ärgerte Noah, dass der Mann ständig im Befehlston mit ihm sprach, obwohl ihm das überhaupt nicht zustand. Und es irritierte ihn, dass dieser Kerl so mit dem Widerständler sympathisierte. Vielleicht löste dessen Hilflosigkeit und Leiden eine Art Beschützerinstinkt in ihm aus, wie der eines älteren Bruders, immerhin hatte er den Beruf des Pflegers gelernt und solch sozial veranlagte Menschen neigten häufig dazu, stets helfen und beschützen zu wollen. Vielleicht war es aber auch weniger der Mensch an sich, dem er sich zugewandt fühlte, sondern mehr dessen Bedeutung. Rej war das ehemalige Oberhaupt der Terroristengruppe Song und Noah kannte Sajans Hintergrund nicht, die Umstände, aus denen er kam. Es war gut möglich, dass dieser die Nähe zu den Widerständlern suchte, weil er ihre Werte teilte. Wenn dies tatsächlich der Fall war, musste Noah aufpassen, dass die beiden nicht zu einer ernsten Gefahr wurden. Allerdings erbot sich daraus auch die Möglichkeit, mehr aus dem Song-Kommendan heraus zu bekommen, als diesem bewusst war.
Noah machte sich eine gedankliche Notiz darüber, die Vergangenheit und Herkunft des dunkelhaarigen Häftlings zu überprüfen. So konnte er auf Nummer sicher gehen. Gleichzeitig wollte er sich aber bemühen, sich ebenfalls mit dem Mann gut zu stellen. Wenn die beiden Häftlinge der Meinung waren, dass er es gut mit ihnen meinte und dass sie ihm vertrauen konnten, war es leichter für ihn, ihre Tätigkeiten zu überblicken. Allerdings hatte Noah in den letzten Minuten gemerkt, dass er viel von seinem sozialen Kommunikationsvermögen eingebüßt hatte, was ihn nicht gerade unbedingt zur charismatischen Vertrauensfigur machte. Für den Moment war dieser Zug jedenfalls abgefahren, der Augenblick war verloren, aber es würden sich sicher noch mehr Möglichkeiten im Laufe der nächsten Tage bieten.
Die folgende dreiviertel Stunde kümmerten sich die beiden Männer nahezu schweigend um die weiteren Verletzungen des Widerständlers. Noah reinigte die Brandwunden, die sich von der Hüfte über die rechte Seite hinauf, über die Schulter und den Hals tief ins Fleisch gefressen hatten und bedeckte sie mit abiotischen Auflagen. Er war dabei sehr gründlich und gleichzeitig aber so vorsichtig, wie es ihm möglich war. Bald war die komplette Hälfte des Körpers mit den silbernen Streifen bedeckt und diese vereinten sich mit den Bandagen vom Arm zu einer sauberen sterilen Fläche.
Sajan ging ihm fleißig zur Hand und stützte den Körper des Song-Kommendan, wann immer es nötig war, um die Verbände anzubringen. Auch kümmerte er sich immer wieder um Rejs Verfassung, fragte nach, ob die Schmerzen erträglich waren und ob er ihn irgendwie noch unterstützen konnte. Dieser gab sich stark, obwohl deutlich an seinen glasigen Augen erkennbar war, dass ihm die schmerzhafte Prozedur ziemlich an die Substanz ging.
Mit dem Ergebnis war der Arzt schließlich sehr zufrieden. So konnten die Verbrennungen auf jeden Fall besser heilen, wie im vorherigen verwahrlosten Zustand. Und auch der Gefangene würde sich bald besser fühlen. Noah wandte sich erneut dem Scanner zu und warf einen Blick auf das Skelett seines Patienten, das in einem der dreidimensionalen Modelle auf dem Monitor abgebildet war. Zu dem Speichenbruch im rechten Arm, der aber schon durch die Plastikschiene stabilisiert war, waren noch deutlich die Frakturen im Brustwirbelbereich zu erkennen. Der Körper war in den wenigen Tagen nicht dazu gekommen, die Brüche adäquat zu reparieren. Es war besser, den Rücken mit einer Stütze gerade zu halten.
Noah holte das notwendige Equipment und bat dann den Pfleger darum, den Verletzten aufzurichten. Sajan griff dem anderen Gefangenen unter die Arme und hob seinen Oberkörper von der Liege. Rej versuchte sich mit der linken Hand abzustützen, um sich selbst aufzurichten, hatte aber nicht die notwendige Kraft dafür. Er verzog das Gesicht und stöhnte auf, als stechende Schmerzen durch seinen Rücken rasten. "Lassen Sie das, Rej, ich mach das schon für Sie", redete der Pfleger sanft auf den Gepeinigten ein. "Ihr Körper ist nicht in der Lage, das Gewicht Ihres Oberkörpers und Ihres Kopfes zu tragen. Ihr linker Arm ist zwar intakt und noch funktionsfähig, aber er hängt ja mit dem Rest Ihres Körpers zusammen, und der ist es nicht. Ihr Schultergürtel und Ihre Wirbelsäule können die Kräfte im Moment gar nicht aufnehmen. Also lassen Sie mich das übernehmen. Sie werden sich daran gewöhnen, das verspreche ich Ihnen, Rej."
Der weißhaarige Mann schloss verärgert die Augen und hatte Mühe damit, sich nicht gegen Sajans Griff zu wehren. Es musste ihm unheimlich schwer fallen, so die Kontrolle über sich abzugeben. Vor noch weniger als drei Wochen hatte er die Befehlsgewalt über eine im Antitalum äußerst gefürchtete Macht und nun konnte er sich noch nicht einmal von alleine aufsetzen.
"Wenn ich Ihren Rücken erstmal stabilisiert habe, wird es leichter für Sie sein", meinte Noah freundlich und legte eine längliche bläuliche Schale auf der Unterlage zurecht. Sie war aus einem Kunststoff, der atmungsaktiv war und so nicht unangenehm auf der Haut auflag. An manchen Stellen hatte sie Aussparungen um das Gewicht zu reduzieren. An ihr waren mehrere dunkelblaue leicht elastische Gurte angebracht, mit denen sie am Körper des Verletzten befestigt werden konnten.
Vorsichtig senkte Sajan Rejs Rücken wieder ab, während Noah dessen Kopf stützte und die Wirbelsäulenschiene geringfügig ausrichtete. Die Stütze brachte den Körper des Mannes automatisch in eine gerade Position. "Ist es Ihnen irgendwo unangenehm? Oder drückt die Schiene Sie irgendwo?", fragte der Mediziner und als der Häftling den Kopf schüttelte, zog er die Riemen über dessen Brust und Bauch, verschloss sie und zog sie fest, wobei er gerade auf der rechten Körperhälfte besondere Vorsicht walten ließ. Auch die Riemen waren aus einem speziellen Material und blieben auf der Haut haften, so dass sie einen starken zusätzlichen Halt boten. "Sie werden merken, Sajan wird Ihnen gleich nochmal beim Aufsitzen helfen, dass es so sehr viel weniger schmerzhaft für Sie ist. So kann Ihre Wirbelsäulenfraktur auch weiter ausheilen, wenn Sie auch aus der liegenden Position heraus gehen." Der Pfleger nahm das als Aufforderung, griff dem Patienten erneut unter die Arme und brachte ihn in eine sitzende Position. Es schien dem Gefangenen weniger Schmerzen zu bereiten, als gerade noch zuvor.
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