Als die Schleusentore sich geschlossen hatten, beugte er sich über Rej Lio'Ta und musterte sein Gesicht, spulte dann seine Begrüßungsrede ab. "Sie befinden sich hier im Staatsgefängnis von Xiantiao auf der Krankenstation. Jeder neue Häftling kommt erst einmal zu mir. Ich bin Dr. Noah Bianco, der leitende Mediziner hier. Zuallererst werde ich die Aufnahme hier durchführen, Sie gründlich untersuchen. Im Anschluss werden Sie dann zu Ihrem Zellenblock überstellt. In Ihrem speziellen Fall werden wir uns täglich hier sehen, da Sie medizinische Leistungen benötigen. Sie können sich an mich wenden, wenn Sie gesundheitliche Schwierigkeiten oder Probleme haben oder bekommen sollten. Auch wenn Sie psychologische Unterstützung benötigen, kann ich Ihnen innerhalb eines gewissen Rahmens ein Ansprechpartner sein. Sie können sich mit jeglichen Fragen an mich wenden. Durch Ihren körperlichen Zustand erhalten Sie das Recht, jederzeit auf die Krankenstation gebracht zu werden, wenn Sie medizinische Leistungen benötigen. Außerdem sind spezielle Haftverschärfungen für Sie ausgeschlossen."
Noah war sich nicht einmal sicher, ob der Gefangene ihm zuhörte. Seine müden blauen Augen waren unfokussiert, auf einen Fleck in der Ferne gerichtet, seine Atmung ging ruhig. Auch das hatte der Mediziner in der Akte über den Song-Kommendan gelesen: Er hatte eine starke Einschränkung der Sehkraft durch schwere Nervenschäden erlitten. Dass der Mann ihn nicht ansah bedeutete also nicht, dass er ihn absichtlich ignorierte. "Verstehen Sie mich, Herr Lio'Ta?", fragte er deshalb deutlich. "Können Sie mir folgen?" Er wusste nicht, wie grob sie mit dem Gefangenen beim Transport umgegangen waren und ob er überhaupt bei vollem Bewusstsein war.
"Ich verstehe Sie", antwortete der Häftling matt. Noah nickte, mehr für sich selbst, als für sein Gegenüber. "Gut." Er machte einen Bogen um die Liege und öffnete dann mithilfe seines funkgesteuerten Armdisplays die Fesseln an Rejs Handgelenken. "Erschrecken Sie bitte nicht", meinte Noah ruhig, als er die Handgelenke des Gefangenen berührte, um die Handschellen zu lösen. "Ich mache Sie jetzt los. Bitte tun Sie mir den Gefallen und rühren sich nicht, solange ich es nicht von Ihnen verlange. Ich möchte nicht die ShaoSetFai rufen müssen." Der Song-Kommendan gab mit einem knappen Nicken seine Zustimmung.
Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Noah sich in Gefahr gebracht hatte, weil er das Gefahrenpotential der Häftlinge falsch eingeschätzt hatte. Aber diese taten sich damit selbstverständlich keinen Gefallen. Das Schlimmste was dem Medic dabei bis jetzt passiert war, waren ein blaues Auge, eine aufgeplatzte Lippe oder ein paar Prellungen gewesen, doch für den Regelüberschreitenden Häftling bedeutete ein Übergriff auf den Arzt unangenehme Haftverschärfungen und harte Strafen.
Vorsichtig hob er den rechten Arm des Gefangenen von dessen Rücken und legte ihn nach vorne. Obwohl seine schweren Verbrennungen von silbern beschichteten Mullbinden bedeckt waren und der Arm in einer Schiene steckte, war zu erkennen, dass sich Elektrizität verheerend auf die Gliedmaße ausgewirkt hatte. Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger, die nicht von dem Verband verdeckt waren, waren wie zu einer Klaue verkrampft und lila und blau angelaufen. Die Fesseln des Obersten Gerichtes von Xiantiao hatten sicherlich nicht zur Besserung des Zustandes beigetragen. Vermutlich hätte man ihm den Arm durch einen Cyberarm ersetzt, wenn er kein Gefangener mit Todesurteil gewesen wäre.
"Ich werde Sie jetzt kurz scannen, bitte halten Sie still." Noah zog einen Roboterarm, der an einem Gerätebaum neben der Liege hing, heran und schob ihn über den Kopf des Gefangenen. Auf einem Display stellte er die Parameter 'Larca', das Alter von dreißig Jahren, die ungefähre Größe, den Name des Patienten und die Häftlings-Identifikations-Nummer ein und schickte den Scanner dann auf seinen Weg. Das Diagnosegerät umkreiste die Liege auf mehreren Bahnen und zeichnete dabei den körperlichen Zustand des Inhaftierten auf. Als es wieder zurück auf seinem Posten einrastete, warf der Medic einen knappen Blick auf die Uhr, dann speicherte er die erfassten Daten ab und warf einen groben Blick darüber. In der Akte, die man ihm für den speziellen Patienten vom Gericht übergeben hatte, waren die Verletzungen nach Sicht zwar grob zusammengefasst gewesen, aber das Diagnoseaggregat war sehr viel akkurater und Noah wollte sich nicht auf ungenaue Angaben der ShaoSetFai verlassen.
Die Schadstoffwerte im Blut waren stark erhöht, der Gefangene benötigte eine Blutwäsche, um die ganzen Abbauprodukte, die durch die Heilung der Verbrennungen entstanden, herausgefiltert zu bekommen. An den Kaliumwerten sah der Mediziner, dass Rejs Niere zu schwach war, um diese Leistung zu vollbringen. "Sie brauchen Dialyse", erklärte er dem Mann vor ihm. "Danach werden Sie sich ein wenig besser fühlen. Aber dafür müssen Sie jeden Tag hier her kommen. Bis Ihre Organe diese Funktion wieder übernehmen können. Oder bis..." Noah hielt inne. Er wollte es seinem Gegenüber nicht unter die Nase reiben, dass er ein Todeskandidat war, der auf seine Hinrichtung in sechs Wochen wartete. "Bis...", versuchte er den Satz anders zu beenden, aber es fiel ihm nichts passendes ein.
"Schon in Ordnung", meinte der Häftling müde. "Bis ich zu Tode geschockt werde. Dann brauch' ich keine funktionierenden Organe mehr."
Noah verzog das Gesicht. Er erinnerte sich selbst nur ungern an die Ereignisse, wo er selbst mit einem Elektroschocker malträtiert worden war. Dass man dem Song-Kommendan nicht die mildere Strafe des Todes durch eine Giftinjektion gewährt hatte, lag vermutlich daran, dass er als Staatsfeind der Xiantiao-Regierung galt. Und zudem keinerlei Informationen über das weitere Vorgehen der Song unter Shen To preisgegeben hatte.
"Warum machen Sie sich eigentlich die Mühe, mich unter diesen Umständen einzuknasten? Warum werde ich erst in sechs Wochen getötet?", stellte der Gefangene die nicht irrelevante Frage. Wie der Medic es von den Videos aus der Gerichtsverhandlung gehört hatte, schien der Terrorist seinem Ende tatsächlich sehr gefasst entgegen zu blicken. Aber mit diesem zerstörten Körper war der Tod vielleicht auch eher eine willkommene Erlösung denn eine Strafe.
"Verstehen Sie mich nicht falsch, Dr. Bianco", setzte Rej Lio'Ta fort und schloss durch seine weiteren Worte Noahs soeben erstellte Theorie sofort wieder aus, "ich hänge an meinem Leben. Aber für die LAAN ist das doch ein unnötiger Aufwand. Ein hoher Kostenfaktor."
Noah erinnerte sich daran, dass man ihn nicht nur einmal vor dem Widerstandskämpfer gewarnt hatte. Der spezielle Gefangene habe eine gefährliche Art, Konversation zu führen. Zu leicht ließe man sich in seine Welt, in seine Sicht der Dinge ziehen, wechselte, ohne es zu merken ganz langsam die Seiten. Der Arzt musste auf der Hut sein, wenn er es weiter dulden wollte, dass der Gefangene so viel sprach. Auf der anderen Seite war er als leitender Gefängnismediziner auch dazu hier, um die psychologische Komponente für die Häftlinge abzudecken, insbesondere, wenn sie krank oder verletzt waren. Aber den Abstand zu wahren, war ihm auch schon bei anderen Klienten ganz gut gelungen. "Sie sind hier, weil Sie den ShaoSetFai noch nicht ihre Fragen beantwortet haben. Aufgrund Ihres körperlichen Zustandes sind Sie nicht in der Lage, für Ihre Unterbringung und Nahrung zu arbeiten. Aber auch so wird der Aufenthalt für Sie hier kein Zuckerschlecken. Denn die ShaoSetFai werden Sie täglich zu den Befragungen abholen. Die LAAN ist sich sicher, sechs Wochen werden reichen, um an die benötigten Informationen zu gelangen. Danach sind diese auch nicht mehr all zu viel wert. Und Sie damit auch nicht mehr."
Der Gefangene lachte bitter. "Das haben die sich aber schön überlegt. Da bin ich gespannt, wer den längeren Atem behält."
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