"Sie, mit nur einem Lungenflügel? Dann sicherlich die ShaoSetFai", rutschte es dem Medic unüberlegt heraus und Rej lachte erneut. "So gesehen... haben Sie vermutlich recht."
Im selben Moment erklang erneut das schnarrende Geräusch von der großen Tür, dann setzten sich die Torflügel in Bewegung und zwei der ShaoSetFai tauchten in der Schleuse auf. Sie eskortierten einen Mann, der in der fürs Hauptgefängnis üblichen orange-schwarzen Gefängniskleidung steckte. Er hatte freundliche braune Augen, eine markante Nase, die aber gut in sein Gesicht passte und einen zu einem verschmitzten Lächeln verzogenen Mund. Das halblange dunkelbraune Haar hatte er sich lässig aus dem Gesicht gekämmt, allgemein machte er einen sehr gelassenen Eindruck, obwohl seine Arme mit einer Manschette auf den Rücken gefesselt waren.
"Hallo, Dr. Bianco", rief der Neuankömmling fröhlich durch die Krankenstation. "Die netten Herren wollten auf die Fesseln nicht verzichten. Bitte verzeihen Sie meine Verspätung."
"Sie können mir Herrn Bjantiya hier lassen", forderte Noah die Soldaten auf, welche sich augenblicklich wieder versteiften und den Gefangenen in ihrer Mitte etwas fester packten. Der Häftling verzog das Gesicht zu einem noch schieferen Grinsen. "Die sind heute einfach so ungemütlich. Ich weiß auch nicht, weshalb."
"Ruhe!", wurde er unwirsch von einem der ShaoSetFai angeblafft. "Unterschreiben Sie hier das Übergabeprotokoll, Doktor Bianco. Wollen Sie wirklich mit zwei der Insassen in einem Raum alleine bleiben?" Unter dem maskierten Gesicht sah Noah, wie der Soldat die Stirn runzelte. Die XSF waren heute tatsächlich etwas unentspannt. Wahrscheinlich lag es an dem speziellen Gefangenen. Vielleicht wollten sie in seiner Gegenwart besonders hart und unbeugsam wirken. Der Doktor zückte erneut seinen Plastift und quittierte das digitale Formular mit seinem Namenszug. "Herr Bjantiya hat vielleicht ein etwas loses Mundwerk, aber er riskiert es sicherlich nicht, seine vorzeitige Haftentlassung in einem halben Jahr zu gefährden, indem er mir hier eine überbrät. Davon hätte er absolut keinen Nutzen." Er packte den braunhaarigen Mann am Arm und zog ihn aus der Schleuse. "Sie können wieder gehen", ließ er die Wärter unhöflich wissen. "Und draußen vor der Türe herumstehen. Die hier machen wir erst einmal ab." Er wandte sich den Handschellen des Neuankömmlings zu und löste sie durch eine Codeeingabe am dort angebrachten Display. "Absolut sinnlos", murmelte er vor sich hin und legte die Fesseln zur Seite, schenkte den Soldaten keine weitere Beachtung mehr.
Gemeinsam gingen sie zurück zu der Liege, auf der der spezielle Gefangene nur mit angehört hatte, was im Schleusenbereich vor sich gegangen war, und Noah schob den anderen Häftling in Rejs Blickfeld. "Das hier ist Sajan Bjantiya. Er ist ebenfalls ein Insasse hier. Er wird Sie die nächsten sechs Wochen begleiten."
Der mit dem Namen 'Sajan' vorgestellte Mann streckte dem Song-Kommendan die Hand entgegen, ließ sie dann aber wieder sinken, als er seinen schlecht bandagierten und geschienten rechten Arm sah.
"Ich habe die letzten vier Jahre im West gesessen", erzählte er stattdessen in entspanntem Tonfall. "Da ich, bevor ich dort gelandet war, als Pflegekraft gearbeitet hatte, hat man mir das Angebot gemacht, mir ein Jahr Haft zu erlassen, wenn ich mich die nächsten sechs Wochen um Sie kümmere. Ich fand das sei ein faires Angebot." Er ging in die Hocke, um sich mit dem ehemaligen Terroristenanführer auf Augenhöhe zu begeben. "Drum wurde ich gestern hier her verlegt. Ich habe mich mit Dr. Bianco schon ausgetauscht und mich mit den Gegebenheiten des Traktes hier vertraut gemacht."
Noah beobachtete argwöhnisch, doch neugierig, den Blickwechsel zwischen den beiden Männern. Er war sich nicht sicher, ob der neue Gefangene sich darauf würde einlassen können. Wenn der Funke übersprang und sich die zwei einigermaßen verstanden, dann würde es ihm die Arbeit ungemein erleichtern.
"Sie sind ganz schön zugerichtet, Rej. Ich darf Sie doch 'Rej' nennen?", fragte der braunhaarige Mann geradeheraus und Rej Lio'Ta nickte. "Rej? Ja", antwortete er knapp.
"Mich können Sie 'Sajan' nennen. Doktor Bianco nennt mich 'Herr Bjantiya', das geht auch, aber so förmlich muss es nicht sein." Der vor ihm liegende signalisierte mit einem Blinzeln sein Einverständnis. Der Krankenpfleger hob seine Hand auf Rejs Augenhöhe und streckte seine Finger in seine Richtung. "Ich werde Sie anfassen müssen, Rej", erklärte er behutsam. "Es wird ungewöhnlich für Sie sein, zu Beginn vielleicht auch unangenehm, aber daran werden Sie sich schnell gewöhnt haben. Und ich versichere Ihnen, ich passe gut auf Sie auf. Wenn Sie Schmerzen haben, müssen Sie mir das sofort sagen, oder irgendwie signalisieren. Wenn Ihnen etwas unbequem ist, dann äußern Sie auch das bitte. Ich werde versuchen, Ihnen so gut wie möglich zu helfen."
Noah war sich nicht sicher, aber er glaubte. so etwas wie Unbehagen unter einer vorgeschobenen Maske von Gelassenheit bei dem Widerständler zu erkennen. Dass ihm ein Fremder so nahe kam und dabei um Erlaubnis bat, war etwas, dass er wohl nicht kannte. Es schien so, als sei ihm die Art von Kontakt unangenehmer, als die grobe ungefragte Behandlung durch die ShaoSetFai. Doch der Gefangene nickte schließlich erneut und gab dem Pfleger seine Zustimmung. "Ich werde Sie jetzt berühren, ok?", erklärte Sajan seine nächste Handlung. Langsam streckte er seine Hand nach dem Song-Kommendan aus und legte sie ihm dann sanft auf seinen Unterschenkel. Der Medic war am Vortag mit ihm die in der Gerichtsakte notierten Verletzungen des speziellen Gefangenen durchgegangen und so wusste Sajan, wo er diesen berühren konnte, ohne ihm Schmerzen zuzufügen. "Gut", führte er weiter aus, "spüren Sie das?"
"Ja", antwortete Rej leise. Der Pfleger hatte eine Art an sich, die den Gefangenen verletzlich und nachdenklich werden ließ. Hatte der Widerständler zuvor sogar noch über seine eigene Hinrichtung lachen können, wirkte er nun von der Sanftheit und Zugewandtheit extrem eingeschüchtert. Sajan erhöhte ein wenig den Druck auf dessen Bein, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich besser auf den ungewohnten Körperkontakt einzustellen. "Sie spüren die Berührung an Ihrem Bein, aber Sie können Ihre Beine nicht bewegen?", fragte er währenddessen interessiert nach. Noah beobachtete neugierig, wie Sajan mit dem Verletzten umging. Er erinnerte sich daran, dass es auch mal eine Zeit gegeben hatte, in der er einfühlsam mit seinen Patienten umgegangen war. Allerdings erschien es ihm wie eine Ewigkeit, wie aus einem anderen, weit entfernten Leben. "Teile seines Rückenmarks wurden verbrannt und das Nervensystem dabei schwer geschädigt", beantwortete der Medic für den Gefangenen die Frage. "Herr Lio'Ta wird nie mehr laufen können. Helfen würde möglicherweise nur eine Nervenrekonstruktion oder ein elektronischer Ersatz, aber das rentiert sich für ihn nicht mehr."
Die beiden Häftlinge warfen Noah einen überraschten Blick zu, dann sahen sie sich gegenseitig verdutzt an. "Das hat er jetzt nicht wirklich gesagt, oder?", fragte Sajan entsetzt den vor ihm liegenden und seine Augen wanderten zwischen den beiden Männern irritiert hin und her. Die Augen des Doktors hatten sich geweitet und er hob die Hand erschrocken zum Mund. Es war ihm fürchterlich unangenehm, dass er erneut so taktlos vor sich hin geredet hatte. Vielleicht arbeitete er schon zu lange für solche Einrichtungen.
"Der Punkt geht wieder an Sie, Doktor", meinte Rej aber nur lächelnd. "Das rentiert sich wirklich nicht mehr." Durch seinen Fauxpas schien der Terroristenanführer wieder zurück zu seiner gelassenen Selbstsicherheit gefunden zu haben und das machte es für Noah nicht ganz so peinlich und er lächelte unglücklich zurück. "Ich mache das nicht mit Absicht", versicherte er.
"Na wunderbar", meinte Sajan ebenfalls grinsend und nahm seine Hand vom Bein des anderen Gefangenen. "Dann packen wir mal an." Er stand auf und trat an das Kopfende der Liege, schob den Roboterarm des Scanners zur Seite, als fühle er sich hier gänzlich zuhause. Noah desinfizierte sich die Hände und zog sich dann Handschuhe über.
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