Beli / Tanja Sorianumera / Giesecke - REJ - Der spezielle Gefangene

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Nach einem schweren Unfall sitzt Rej Lio'Ta querschnittsgelähmt im Rollstuhl – und im Hochsicherheitsgefängnis der Stadt Xiantiao. Dort muss sich der freche und wortgewandte junge Mann gemeinsam mit seinem redseligen Zellengenossen und Pfleger Sajan gegen Beleidigungen und Erniedrigungen erwehren, sich mit täglichen Verhören herum schlagen und die abendlichen Besuche bei dem misanthropischen Gefängnismedic ertragen. Die kommenden sechs Wochen im Xiantiao Haupt sind ein Spießrutenlauf. Und gleichzeitig sind es seine letzten sechs Wochen. Am Ende dieser wartet auf Rej die öffentliche Exekution. Denn Rej Lio'Ta ist als Gründer der Terrororganisation Song wegen Landesverrat verurteilt – und streitet seine Verantwortung über die Straftaten überhaupt nicht ab. Eine nicht ganz gewöhnliche Geschichte über einen nicht ganz gewöhnlichen Menschen in einer nicht ganz gewöhnlichen Welt.

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Widmung

...gewidmet den heiligen Spindinhabern,

den geometrischen Formen

und dem Möbelhaus-Tribe...

0 - Anklagepunkte

"Herr Lio'Ta, was wollen Sie noch zu Ihrer Verteidigung vorbringen?"

Der Angeklagte war fast dankbar darüber, dass der Vorsitzende der Richter des Obersten Gerichts von Xiantiao ihn immer beim Namen nannte, wenn er ihn direkt ansprach. Dies half ihm dabei, zu erkennen, wann es für ihn wichtig war, seine Aufmerksamkeit auf das Geschehen vor sich zu lenken. Es kostete ihn viel Kraft, sich an dem Verfahren zu beteiligen, viel Anstrengung, sich auf die Stimmen und die vielen Personen um sich herum zu konzentrieren. Mühsam hob er den Blick und sah dem Obersten Magister Hel, dem Gerichtsvorsitzenden, ins Gesicht. Er konnte ihn nur als blassen hautfarbenen Schemen in dunklen Gewändern ausmachen, denn vor seinen müden und geschädigten Augen blieb alles unklar und verschwommen. Aber er war sich bewusst, dass gerade in diesem Moment mehrere Kameras auf ihn gerichtet waren, dass die Monitore, die sich links und rechts von dem Wahrzeichen Xiantiaos über den Köpfen der sechs Richter befanden, ihn in Großaufnahme zeigten, dass seine Reaktionen, seine Mimik und jedes seiner gesprochenen Worte in ganz Xiantiao, vermutlich sogar über die Grenzen der Landesgroßen Stadt hinaus, zu sehen und zu hören waren.

Dieser Moment war wichtig, vielleicht sogar wichtiger, wie alle vorangegangenen Möglichkeiten, bei denen man ihm Fragen gestellt hatte. Denn bis auf die knappen hundert Personen, die für den Prozess als Zuschauer zugelassen worden waren, um behaupten zu können, dass das Volk als Zeuge bei diesem wichtigen Gerichtsverfahren zugegen gewesen war und jede seiner Aussagen mit verfolgt hatte, würden seine Worte einer sehr strengen Zensur unterliegen. Das Videomaterial würde beschnitten, die Berichte der Presse kontrolliert und an den Stellen gekürzt werden, an denen er die gefährliche Wahrheit zu verbreiten gesucht hatte. Statements der Journalisten würden überprüft und wie das Videomaterial zeitverzögert und gekürzt frei gegeben werden.

Aber dieser Moment war der letzte, an dem man ihm vor Gericht das Wort überließ. Und an dieser Stelle etwas von seinen Worten heraus zu schneiden, oder zu verändern, wäre äußerst schwierig, vor allem aber auch auffällig gewesen. Das vor der Öffentlichkeit erklären zu müssen, sollte diese irgendwie dahinter kommen, dass seinen Aussagen ein Teil fehlte, war ein zu großes Risiko für die Verantwortlichen. Das hoffte er zumindest. Denn dies war die letzte Chance, die Menschen da draußen wissen zu lassen, welchen Lügen sie aufsaßen. Und es war die letzte Chance, eine Nachricht an seine Leute zu übermitteln. Es war die letzte Chance, Verantwortung zu übernehmen.

"Nichts", war jedoch das vorerst einzige Wort, dass er keuchend über die Lippen brachte und das über das Mikrophon an seinem Ohr verstärkt wurde. Ihm fehlte die Luft zum Atmen, jeder Atemzug tat weh, das Sprechen war anstrengend und zehrte an seinen noch wenigen verbliebenen Kräften. Die Fesseln an seinen Oberarmen, die über Verstrebungen mit Manschetten an Oberschenkeln und Fußknöcheln verbunden waren, waren das Einzige, was ihn noch irgendwie aufrecht hielt. Er war nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft aufrecht zu halten, vor dem Gericht nieder zu knien, dass er zu Beginn des Prozesses nicht mal als das seine anerkannt hatte, weil sein Bestehen auf einem Lügengebäude aufbaute und die Leichtgläubigkeit der Bewohner Xiantiaos schamlos ausnutzte.

"Wie bitte? Können Sie das noch einmal wiederholen?", fragte der Oberste Magister Hel, als habe er nicht richtig gehört und beugte sich über das Pult zu ihm vor. Auch die anderen Richter, die mit über sein Schicksal entscheiden würden, lehnten sich über den länglichen Tisch, warteten gebannt auf seine weiteren Ausführungen. Ihre Irritation war für ihn deutlich spürbar.

"Nichts - zu meiner Verteidigung", gab er sich Mühe, mit fester Stimme zu sprechen. "Nichts zu meiner Verteidigung vor diesem verlogenen Gericht. Das hier ist ein Schauprozess. Das Urteil steht schon längst fest. Das tut es, seit man mich zum Staatsfeind ernannt hat, meine Familie - die Song - als eine terroristische Vereinigung verboten hat." Er hustete und die verschwommenen Flecken vor seinen Augen tanzten, wurden farblos und grau. Nach jedem zweiten oder dritten Wort musste er kurz inne halten, um nach Luft zu schnappen. Aber der Gedanke an seine Leute ließ ihn sich zusammenreißen und noch ein weiteres Mal tief Atem holen. "Habe ich dieses Urteil verdient? Bin ich schuldig, im Sinne dieser Anklage?"Er legte alles Vertrauen in seine brüchige Stimme und alle Selbstsicherheit in seinen glasigen Blick und in seine nächsten Worte. "Ja, und ja, das bin ich. Ich bedauere jedes unschuldige Opfer, dass uns dieser Kampf bisher gekostet hat, uns dieser Kampf noch kosten wird. Unbeteiligte Tote und Verletzte, wie bei der Stilllegung des Energieverteilers in ThanaVelu, hätte es niemals geben dürfen. Ein unverzeihlicher Fehler." Das Sprechen war so anstrengend, dass Sterne vor seinen Augen zu flirren begannen. Ihm war bewusst, dass er für all zu lange Ausführungen nicht genug Sauerstoff bekam - gleichzeitig konnte er sich keine längeren Sprechpausen leisten, denn das hätte man als Ende seiner Verteidigungsrede interpretiert. "Das tut mir sehr leid. Es wurden Fehler gemacht und ich habe auch falsche Entscheidungen getroffen, die nicht zu entschuldigen sind. Dafür und für alle weiteren unschuldigen Verletzten und Toten übernehme ich die volle Verantwortung." Er schloss für einen kurzen Moment die übermüdeten geröteten Augen, um dann mit noch mehr Entschlossenheit im Blick wieder zu den Kameraaugen aufzusehen. "Aber das bedeutet nicht, dass unsere Forderungen falsch sind - im Gegenteil! Die Menschen in Son'Gashania verdienen es, gehört zu werden! Sie verdienen es, unter menschenwürdigen Bedingungen zu leben! Sie verdienen es, eine faire Chance zu erhalten!" Gerne hätte er sein Plädoyer mit einer energischen Handgeste unterstrichen, allerdings erlaubten die schweren Metallmanschetten, die seine Arme auf dem Rücken festhielten, keinerlei Bewegungen. "Und die Menschen aus Xiantiao verdienen es, endlich die Wahrheit über die verlogene Regierung zu erfahren! Über..." Eigentlich hatte er vorgehabt, noch weiter zu sprechen, den Anwesenden mitzuteilen, was er über die Gründung der AneLAAN, des Regierungsapparates von Xiantiao, über den Alaver-Bezirk ThanaVelu und über den Vorfall des Xuemenchkara wusste, aber man hatte ihm das Mikrophon abgestellt und damit für ihn beschlossen, dass seine Rede nun zu Ende war. Seine bläulich verfärbten Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. Damit hatte er ja gerechnet - nur nicht schon so früh. Wenigstens war es nun gleich vorbei.

Im Publikum war es währenddessen zu einem Murmeln und Raunen gekommen, welches der vorsitzende Richter unterbrach, in dem er seine Stimme dagegen erhob. "Als formaler Verteidiger des Angeklagten haben Sie das letzte Wort, bevor wir uns zur Urteilsberatung zurückziehen werden. Solicidan Tela Enika, Ihr Plädoyer, bitte."

Der angesprochene junge und unerfahrene Mann stand hinter seinem Pult auf, verschränkte nervös seine Finger vor dem Schoss und richtete seinen Blick erst auf den neben ihm knienden Angeklagten, dann nacheinander auf die Richter. Er räusperte sich demonstrativ und brachte dann rasch den einen Punkt vor, der nicht von der Hand zu weisen war. "Herr Lio'Ta gilt im Laufe der Verhandlung als umfangreich für sich selbst geständig und ist bereit, die komplette Verantwortung für die Verbrechen der Song auf sich zu nehmen. Die fixe Idee einer Verschwörung mag ihn in seinen Fehlentscheidungen und in seinem verwerflichen Handeln negativ und ungesund beeinflusst haben. Darum bitte ich das Oberste Gericht von Xiantiao um ein wenn möglich mildes Urteil."

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