1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Noah befestigte einen weiteren Riemen, den er unterhalb der rechten Schulter durchführte und zog damit den Oberkörper mehr nach links in die Aufrechte. Da die Rückenmuskulatur auf der rechten Seite des Körpers stark geschädigt war, brauchte sie besondere Entlastung. Der Gurt führte über die linke Schulter und stabilisierte den Rücken dadurch noch stärker. "Sehen Sie?", meinte er bemüht freundlich zu seinem Patienten. "Das fühlt sich schon ganz anders an, oder? Damit können Sie auch bequemer im Rollstuhl sitzen, ohne dass Sie wieder in sich zusammenfallen."
"Rollstuhl?", echote der Häftling mit verächtlichem Unterton, nachdem er sich die Atemmaske vom Gesicht gezogen hatte. "Selbstverständlich", gab der Medic zu verstehen. "Herr Bjantiya wird Sie nicht die ganze Zeit auf Armen herum tragen können", meinte er mit einem entschuldigenden Lächeln. "Jedoch sind Sie hier genauso ein Sträfling, wie all die anderen hier. Und darum werden Sie auch am allgemeinen Tagesablauf hier teilnehmen. Dazu werde ich später noch kommen."
Missmutig blickte der ehemalige Song-Kommendan auf seine rechte Hand hinab und beobachtete die minimalen Bewegungen, die Daumen, Zeige- und Mittelfinger ausführen konnten, während Sajan seinen Oberkörper wieder nach hinten kippte und ihn auf die Liege zurück legte. "Wie soll ich mit dieser Hand einen Rollstuhl bedienen?", fragte Rej mit gerunzelter Stirn. Im Moment schien er seine Hilflosigkeit durch ein aufkeimendes Ärgergefühl zu kompensieren, welches ihm deutlich im Gesicht abzulesen war. Der Pfleger wollte ihm die Atemmaske wieder auf Mund und Nase schieben, wurde jedoch von Rej zurückgehalten. So berührte er ihn stattdessen nur besänftigend an der Schulter. "Alles mit seiner Zeit. Dazu kommen wir später. Jetzt werden wir Sie erstmal an die Blutwäsche anschließen und Sie als nächstes selbst waschen. Ihr Körper ist voller Dreck und Blut und frische Kleidung benötigen Sie auch."
Neugierig beobachtete Noah, wie sich die Miene des Patienten verhärtete, der Ärger sich in Ablehnung verwandelte und er vor der Berührung des Krankenpflegers zurückwich.
"Sie werden mich nicht anfassen!", verdeutlichte er, was er von dem weiteren Behandlungsplan hielt. Mit dem linken Arm versuchte er sich erneut an der Liege abzustützen und sich aus eigener Kraft aufzurichten, doch wie Sajan es zuvor gesagt hatte, fehlte ihm genau diese dafür. Zudem hielt er ihn sanft mit der Hand an der Schulter auf der Unterlage fest. Besonders interessant war, dass sich der schwer verletzte Mann weniger gewehrt hatte, als sie ihm beim Versorgen der Wunden Schmerzen zugefügt hatten, wie als es darum ging, Tätigkeiten für ihn zu übernehmen, die er eigentlich mal selbst verrichten hatte können. Er konnte also besser mit Schmerzen umgehen, als die Erniedrigung durch Hilfe zu ertragen.
"Beruhigen Sie sich, Rej", befahl der ältere Häftling sanft und versuchte erneut Blickkontakt zu dem Verletzten aufzunehmen, um zu ihm durchzudringen. "Ihr Widerstand ist doch zwecklos."
Doch der Song-Kommendan blickte an Sajan vorbei und als er den letzten Ausspruch von ihm hörte, begannen sich seine Augen vor Zorn zu weiten. "Zwecklos?!", keuchte er, dann schnellte seine Hand nach oben und packte den dunkelhaarigen Mann am Kragen seiner Häftlingsklamotten. "Widerstand ist niemals zwecklos! Niemals! Solange wir noch nicht alle tot sind, könnt ihr drecks AneLAAN-Speichellecker vergeblich darauf warten, dass unser Widerstand zerbricht!" Die letzten Worte waren mehr ein Krächzen, der ehemalige Song-Kommendan bekam einen Hustenanfall und Tränen schossen ihm in die Augen.
Sajan ließ sich nicht davon beirren. Sanft löste er die verkrampften Finger von seinem Pullover und hielt seine Hand dann fest. Dann legte er seinen Arm um seine Schultern und zog den verzweifelten Mann zu sich heran. Der Kopf des Widerständlers kippte gegen Sajans Brust, er brach schließlich gänzlich in sich zusammenbrach und begann verzweifelt zu weinen.
Der Pfleger sparte sich den Satz, dass alles wieder gut werden würde. Denn für Rej Lio'Ta würde nichts wieder gut werden. Er würde nicht mehr gesund werden, er würde in naher Zukunft öffentlich exekutiert werden, und seiner Organisation hatte man durch seine Erfassung zudem einen empfindlichen Schlag versetzt und sie dadurch von ihrem angestrebten Ziel ein ganzes Stück fort getrieben. "Ganz ruhig", meinte er in entspanntem warmen Tonfall stattdessen. "Atmen Sie. Atmen Sie ganz ruhig."
Erneut beeindruckte Noah, wie der andere Häftling mit dem schwerbehinderten Terroristen umging. Er hatte eine für diesen gänzlich unbezwingbare Art, die sich irgendwie aus Sanftheit, Behutsamkeit und Beharrlichkeit zusammensetzte. In Sajan Bjantiyas Gegenwart zerbrach der harte Widerständler zu einem völlig mutlosen und verzweifelten Geschöpf, das so verletzlich und schwach war, wie ein kleines Kind. Der Pfleger brachte ihn dazu, sich fallen zu lassen, ob er das wollte, oder nicht.
Und an diesem Ansatzpunkt sah der Medic seine Chance. Sajan und er konnten zwei unterschiedliche Rollen erfüllen. Und so auf zwei unterschiedlichen Kanälen Informationen über den Song-Kommendan heraus filtern. Vielleicht sollte er bei seinem Vorgesetzten anbringen, dass eine Befragung des Krankenpflegers ebenso sinnvoll sein konnte, um etwas über die Song zu erfahren, wenn Rej sich dem anderen Häftling erst einmal anvertraut hatte. Und Noahs Art, mit Rej Lio'Ta umzugehen, förderte die andere Seite ans Tageslicht, die starke, sarkastische und humorvolle, die wenig Angst zu haben schien. Auch diese Seite konnte dadurch, dass sie sich selbst zu viel Sicherheit vorgaukelte, zu einem Informationsgewinn führen.
Er wartete, bis der Weinkrampf ein wenig nachgelassen hatte, dann näherte er sich den beiden Gefangenen und löste Rej Lio'Ta sanft aus dem festen Halt des anderen Mannes. "Ich werde Ihnen jetzt einen zentralen Zugang legen, um mit der Dialyse beginnen zu können. Über diesen erhalten Sie auch Antibiotika und Kreislaufstabilisatoren", erklärte er leise dem Patienten. "Versuchen Sie ein wenig zu schlafen." Dieser sah mit leerem Blick an ihm vorbei, schloss jedoch dann erschöpft die Augen.
Noah ließ die Krankenliege ein Stück nach hinten kippen und tastete dann nach der Vena jugularis interna an der rechten Seite von Rejs Hals. Zeitgleich zog er den Roboterarm mit dem Scanner über den Patienten und ließ sich ein Sonogramm seines Blutkreislaufs zeigen. Mit geübten Handgriffen desinfizierte er die Stelle, legte den Katheter für das Dialysegerät und befestigte ihn mit einem breiten Pflaster. Dann schloss er den Blutfilter an und startete den Vorgang.
Rejs Herzschlag beruhigte sich langsam, das Zittern hörte auf, während Sajan ihm das Atemgerät wieder aufsetzte, dabei noch immer seine Hand festhielt.
Gemeinsam begannen sie dann, den Körper des Verletzten zu waschen, entfernten mit in heißes Wasser getauchten Tüchern die Schmutz- und Blutreste von seiner Haut, die nicht in das frische Verbandsmaterial gehüllt war. Im Anschluss zogen sie ihm frische Kleidung an. Kurzerhand schnitt der Pfleger den rechten Ärmel des dunkelgrauen Pullovers ab, da dieser nicht über die Verbände und die Armschiene gepasst hätte. Die Ellenbogenlangen Ärmel des Übergewandes der orangen Häftlingskluft waren weit genug, um darüber zu gehen. An die Füße kamen bequeme Turnschuhe. Als Rej fertig eingekleidet war, betteten sie ihn wieder zurück auf die Liege und warteten, bis die Blutwäsche durchgelaufen war. In der Zwischenzeit bereitete Sajan einen Rollstuhl vor, stellte ihn ungefähr auf die Größe des Patienten ein und positionierte ihn neben der Krankenliege. Mit einem Piepen meldete das Gerät schließlich, dass es fertig war.
"Sehen Sie, Rej, es war alles halb so schlimm."
"Ja, und während wir hier schuften mussten, konnten Sie hier faul herum liegen", ergänzte der Medic weniger taktvoll, was den weißhaarigen Gefangenen tatsächlich erneut zum Grinsen brachte. Für den Moment war die Krise überwunden. Das ganze Adrenalin, was durch die Schmerzen und den Stress ausgeschüttet worden war, war verbraucht und war völliger Erschöpfung gewichen.
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